The Neverending Days of Rock ’n’ Roll
Jugendszenen in der Zeitschleife (1): Fast fünfhundert Rockabillys gibt es noch in Berlin, Teds und Psychobillys mitgezählt. Eine Exkursion in eine wilde Welt aus Amerikasehnsucht und Fünfzigerjahre-Nostalgie, die bis heute nicht vergehen will
Mit ihrem Laden huldigen sie Tiki, dem amerikanischen Freizeitkult der 50er
von SUSANNE MESSMER
Wenn man ihren Laden in der Danziger Straße betritt, dann kann es schon mal vorkommen, dass man plötzlich nicht mehr so richtig weiß, in welchem Jahr wir uns eigentlich befinden: Annika, eine hübsche Frau mit Tolle, langem Zopf und rotem Schmollmund, sitzt hinter ihrer Nähmaschine und tüftelt an einer neuen Bluse herum. Alex, den sie, wie sie uns später erzählt, kürzlich in Las Vegas geheiratet hat, mit Elvis-Imitator und allem drum und dran, macht solange die Kasse.
Südseeschönheiten und Pin-up-Girls aus den Fünfzigern lächeln auf Kühlschrankmagneten, Postkarten, Bildbänden und Wandgemälden ins Leere, überall hängen Originalklamotten aus den Fünfzigern, aber auch Remakes, die die studierte Modedesignerin Annika selbst näht. Es gibt Gürtelschnallen mit Elvis-Schriftzug, viele rote Blechdosen mit Pomade für lockiges und glattes, kräftiges und feines Haar sowie viele CDs und Platten mit Rock ’n’ Roll.
Und dann natürlich die vielen überflüssigen Gegenstände, in denen Tikis auftauchen, die Namengeber des Ladens: geschnitzte Götzen, die nicht nur auf Hawaii, sondern in den Fünfzigern auch in Amerika verehrt wurden.
Man kennt ihn noch aus alten Filmen – Tiki, den amerikanischen Freizeitgott, die unverzichtbare Requisite in den angesagtesten Bars, Bars voller Bambus und Blumengirlanden mit Tikis am Eingang, Tikis am Tresen, Tikis auf den Speisekarten und Streichholzheftchen, Salz- und Pfefferstreuern. In solchen Bars war der arbeitsame Amerikaner vor fünfzig Jahren mal so richtig exotisch, bestellte bunte Drinks und aß sein Spanferkel mit den Fingern.
Es ist, als ob man mit dem Rock-A-Tiki-Laden, den Alex und Annika vor zwei Jahren aufgemacht haben, in eine Welt stolpert, von der man angenommen hatte, sie sei seit dem Ende ihres Revivals in den Achtzigern längst ausgestorben. Eine Welt aus Amerikasehnsucht und Fünfzigerjahre-Nostalgie. Die schöne Welt der Rockabillys, zu denen jedem noch immer gleich einfällt: Das waren doch die mit den polierten Tollen und Autos, mit James Dean und Elvis Presley, mit hoch gekrempelten Jeans und Rock ’n’ Roll, die mit den Stray Cats, oder?
Annika wirkt manchmal wie eine moderne Betty Page. Schon in den ersten Minuten wird klar, dass sie bestimmt, wie das Gespräch laufen wird. Von wegen klassische Rollenverteilung bei den Rockabillys – harte Jungs, die aussehen wie Farmer, wie bodenständige weiße Männer in Holzfäller- oder Bowlinghemden, mit Silberschmuck und Ties statt Krawatten, und schöne Mädchen mit Pumps und Petticoat: Annika ist viel zu selbstbewusst für das Klischee vom weißen Gartenzaun. Und Alex, der im Osten Punk war und Ende der Achtzigerjahre Rockabilly entdeckte, ist auch kein besonders bulliger Typ. Beinahe smart sieht er aus mit seiner kleinen Tolle, ganz in Jeans, und erinnert mehr an die Hobo-, die Wanderarbeiter-Ästhetik eines Hank Williams als an einen Hillbilly, einen Hinterwäldler. Es sei das Aufbegehren gegen das Spießertum, betonen beide, dass sie so an Rockabilly mögen. Mit der Vermarktung von Rockabilly durch Elvis habe das schon gar nichts mehr zu tun.
Annika sagt: „Die Frauen, die Rockabilly sein wollen, orientieren sich nicht an pausbackigen amerikanischen Hausfrauen aus den Fünfzigern, sondern eher an den Pin-up-Girls, die gegen die traditionelle Rolle der Frau rebelliert haben.“ Sie spricht verächtlich über den Kastanienallee-Schick, das androgyne Schönheitsideal und den Schlankheitswahn heute. Annika, die selbst ab und zu Rockabilly singt, weiß aber: Es gab Sängerinnen, die eine Weile Rockabilly sangen wie Brenda Lee und Wanda Jackson, aber es waren wenige.
Sie weiß, es gibt viel mehr Jungs als Mädchen in der Szene, und auf die Frage, ob es heute noch mehr Frauen gibt, die Rockabilly singen, muss sie lange nachdenken.
Alex und Annika sind in Berlin groß geworden und stellen so den Gemeinplatz auf den Kopf, Jugendszenen wie die Gruftis oder Heavys und eben auch die Rockabillys, die sich schon äußerlich deutlich abgrenzen vom Rest der Welt, trieben vor allem in der Provinz die schönsten Blüten.
Und trotzdem, der Effekt des Images, das man schnell entschlüsseln kann, bleibt auch in Berlin nicht aus: Ihr Laden ist den beiden ihr Wohnzimmer, die Rockabillys sind ihnen eine Familie, in der es sich prima einrichten und die Gefahren des Identitätsverlusts in der großen Stadt, der Unübersichtlichkeiten der Moderne, abwehren lässt. Genau das ist der Grund, warum diese Szene einfach nicht aussterben will: Vier- bis fünfhundert Rockabillys gibt es noch immer in der Stadt, die Hartgesottenen, die auch nach dem Ende des Booms von Rockabilly in den Achtzigern dem Style treu geblieben sind, schätzen die beiden zu unserer Verwunderung, und schicken uns noch am selben Abend auf eine der vielen Veranstaltungen für Rockabillys in der Stadt, von denen es mindestens eine pro Woche gibt. Man muss nur wissen, wo.
Im Ex ’n’ Pop stehen heute Terry Love & The Stompers auf dem Programm. Der Laden ist voll, und es fällt auf, dass wenig Frauen da sind. Dafür gibt es aber Vertreter aus jeder noch so kleinen Subszene und Spezialgemeinde, die sich unter dem Dach Rockabilly so tümmeln: Psychobillys, Teds und leider auch ein paar gefährliche Jungs, die die Südstaatenflagge auf ihre schwarzen Lederjacken genäht haben, Angehörige der Louisiana und Preußen Rebs, unsympathische Gesellen. Ihre rechte Gesinnung, sagen viele Rockabillys in der Stadt, sei völliger Quatsch, bedenkt man die Wurzeln des Rock ’n’ Roll im schwarzen Blues. Andererseits: Der antimoderne Gestus der Rockabillys macht sie für Rechte genauso anfällig wie die Gruftis und Heavys.
Es lässt sich einfach nicht bestreiten: Es waren weiße Musiker aus dem Süden der USA, aus Arkansas, Mississippi, Texas, Louisiana, die zuerst Rockabilly spielten. Man hat auch schon von schwarzen Rockabillys gehört, die es irgendwo in der Welt geben soll, ebenso wie von jiddischen oder japanische – aber diese sind natürlich Außenseiter.
Neben den authentischen Rockabillys wie Alex und Annika sind an diesem Abend also auch ein paar Teds da, die eine größere Stirnlocke haben als die Rockabillys und hinten einen Entenschwanz, wie es heißt. Die Teds erinnern daran, dass die deutschen Rockabillys über England nach Europa gekommen sind.
Martin Rey, ein Berliner Konzertveranstalter für nostalgische Themenpartys, hat lang in London gelebt. Er beschwert sich darüber, wie sich die Szene dezimiert hat und dass sich die Berliner auf den Partys nicht richtig schick machen. „Selbst im Sommer kommen die Berlinerinnen in Jeans. Als ob sie ein Problem mit ihrer Weiblichkeit hätten.“ Er erklärt uns, dass die Kleidung in England nach dem Krieg streng rationiert war. Als Protest gegen diesen Mangel ließen sich die Teds nach edwardianischem Vorbild Gehröcke schneidern, die bis zum Knie gingen.
Wer noch nie einen gesehen hat, denn Teds sind im Stadtbild noch seltener geworden als die klassischen Rockabillys: Das beeindruckendste Denkmal wurde ihnen mit dem Film „Quadrophenia“ gesetzt. Hier sehen die Teds nach amerikanischem Vorbild stark nach Rockern aus, sie tragen Lederjacken und fahren schwere Motorräder, sind eher konservativ und prügeln sich mit den proletarischen Mods.
Annika und Alex verachten Schick und Schönheitsideale der Kastanienallee
Auch ein kleines Grüppchen Psychobillys steht an diesem Abend im Ex ’n’ Pop herum. Erstaunlich, dass es auch die immer noch gibt. Wie in den Achtzigerjahren tragen sie ihren Flat vor sich her, eine flache, manchmal auch runde Tolle, die weiter absteht als bei den Billys und Teds, auch deshalb, weil die Haare um die Tolle herum meistens abrasiert sind wie beim Punk. Die Psychobillys hörten in den Achtzigern eher die Meteors oder die Cramps mit ihrer originellen Mischung aus beschleunigtem Rockabilly, Punk und Surf. Schade, dass sie an diesem Abend nicht richtig auf ihre Kosten kommen: Ihr seltsamer Tanzstil, wild mit den Armen auszuschlagen, war wie Pogo ohne Unterleib, einfach köstlich. Die Psychobillys, das nebenbei, sind der Beweis, dass die Rockabillys die Punks der Fünfzigerjahre waren, arrogant und aggressiv.
Terry Love & The Stompers wirken an diesem Abend wie die Repräsentation einer typischen Rockabilly-Band. Der Sänger hickst, wispert, stöhnt, ächzt und seufzt, so wild er kann. Es gibt Anspielungen auf Call and Response und Do Woop. Die Band legt wie jede gute Rockabilly-Band schnelles Tempo vor. Die Songstrukturen sind einfach, der Rhythmus wird ausschließlich an voraussehbaren Stellen unterbrochen. Treibend werden die Instrumente gespielt, der unverzichtbare Bass wird geschlagen, und wäre ein Klavier vorhanden, so würde es der Pianist mit Fäusten und Füßen bearbeiten wie Jerry Lee Lewis.
Die Einflüsse der Rockabilly-Musik, das hört man auch bei Terry Love & The Stompers, reichen von Blues, Gospel, Country, Western Swing, Bluegrass bis hin zu Boogie-Woogie. Die Texte der meisten Songs drehen sich um schnelle Autos, Partys, Liebe, Herzschmerz und die Befreiung von den Verpflichtungen des bürgerlichen Lebens. Es geht direkt und energisch um Sinnlichkeit, eher mal um die schönen Kurven einer Frau als um die große, romantische Liebe wie beim Schlager. Eine musikalische Welt, die jedem vertraut ist, ähnlich vielen Songs, die jeder mal im Radio gehört hat: Sei es „Blues Suede Shoes“ von Carl Perkins, bekannter auch in der Coverversion von Elvis Presley, „That ’ll Be the Day“ von Buddy Holly oder „Be-Bop-A-Lula“ von Gene Vincent.
Terry Love & The Stompers sind nicht die einzige Berliner Rockabilly-Band. Noch am selben Abend treffen wir einen Mann, der sich Kunterbunt nennt, viel Silber im Ohr hat und uns mit „Howdy!“ begrüßt. Er betreibt ein eigenes Label für Rockabilly, Favourite Records. Bis jetzt ist auf Favourite ausschließlich Vinyl erschienen, im traditionellen 10-Inch-Format, darunter eine sehr schön gestaltete Compilation „Rough Rockin’“ mit Berliner Rockabilly-Bands wie den Round Up Boys oder Desperado 5.
Nichts darf an den Platten bei Favourite Records an den „Einheitsbrei der Charts“ erinnern, findet Kunterbunt, authentisch muss es sein, und darum schreibt er auch in seinen Promotexten: „This is a genuine rock ’n’ roll record and most of these tracks were recorded on cheap equipment in the band’s rehearsal rooms to keep the original spirit and feeling of pure rock ’n’ roll.“ Auch Kunterbunt ist übrigens ein Urberliner, erzählt er vor der Tür des Ex ’n’ Pop, mitten im Verkehrslärm der Potsdamer Straße. Aufgewachsen in Spandau, groß geworden mit Punk, Rockabilly entdeckt und dabei geblieben. Für immer, sagt er.
Erster Teil einer Artikelreihe über Jugendszenen in der Zeitschleife. Denächst alles über Ska-Bands und die Gothic-Szene.
Der Rock-A-Tiki-Laden ist Mo–Fr 12–20 und Sa 12–16 Uhr geöffent, Danziger Straße 3, Prenzlauer Berg. Dort gibt es auch Platten von Favourite Records