Terrormiliz „Islamischer Staat“: Der Siegeszug des Kalifen
Vor drei Jahren galt al-Qaida im Irak als weitgehend besiegt. Ihr Erbe, der IS, stellt nun die Ordnung in Nahost auf den Kopf. Wie kam es dazu?
ISTANBUL taz | Seit knapp drei Monaten bombardiert die amerikanische Luftwaffe Stellungen des Islamischen Staates (IS) im Irak und in Syrien. Dabei blickt die Welt derzeit auf die Schlacht um Kobani (Ain al-Arab) an der türkischen Grenze: Die mehrheitlich kurdische Kleinstadt ist zum Symbol für Sieg oder Niederlage gegen die sunnitischen Radikalislamisten geworden. Selbst in Washington hält man Kobani für so wichtig, dass die Luftwaffe den kurdischen Kämpfern zu Hilfe geeilt ist, obwohl diese mit der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verbündet sind, die in den USA nach wie vor auf der Terrorliste steht.
Im Schatten des Kampfs um Kobani haben die IS-Kämpfer beinahe unbemerkt an einer anderen Front weiteren Boden gut gemacht: in der mehr als 600 Kilometer von Kobani entfernten irakischen Provinz Anbar. Entlang des Euphrats haben die Extremisten in den letzten Wochen mehrere strategisch wichtige Städte wie Hit eingenommen und die Angriffe auf die Provinzhauptstadt Ramadi intensiviert.
Nach Angaben von lokalen Vertretern befindet sich inzwischen ein Großteil der sunnitischen Provinz in der Gewalt des IS. Nur einige Dutzend Kilometer trennen die Extremisten noch von Bagdad, wo sie kurz vor einem hohen schiitischen Feiertag erneut eine neue Serie von Bombenanschlägen gestartet haben. Gleichzeitig entführen und ermorden schiitische Milizionäre sunnitische Zivilisten.
Es ist dieser alte Konflikt zwischen den beiden großen islamischen Religionsgemeinschaften, auf dem schon al-Qaida im Irak gedieh, und aus der nun der IS hervorgegangen ist. Mit seinem ruchlosen Feldzug aus Selbstmordattentaten und Autobombenanschlägen hatte der Gründer der irakischen al-Qaida, der Jordanier Abu Mussab Zarkawi, den Irak ins Chaos gestürzt.
Die Folgen waren vor allem dort verheerend, wo seit Jahrhunderten die Konfliktlinien zwischen den Schiiten und den Sunniten verlaufen: in Bagdad und den Gebieten südlich der Hauptstadt, sowie nördlich davon, in Samarra und Bakuba (Diyala), das Zarkawi zur Zentrale seines Terrors erkoren hatte.
Gegen Schulbildung und Stromaggregate
Dass schiitische Milizionäre Jagd auf ehemalige Gefolgsleute des Regimes machten, sicherte al-Qaida bis zu einem gewissen Grad die Duldung vonseiten vieler Sunniten. Als US-Soldaten den Terrorfürsten im Juni 2006 in seinem Versteck in einem Palmenhain nördlich von Bagdad aufspürten und töteten, hatte er den Zenit seiner Macht indes überschritten. Die Mehrheit der Sunniten wollte sich dem Diktat Zarkawis nicht unterwerfen, der nicht nur in Schulbildung, sondern sogar in Stromaggregaten Teufelszeug sah.
Noch einmal versuchte Zarkawis Nachfolger, der heutige IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi, den Führungsanspruch zu zementieren. Er gab al-Qaida einen quasi-staatlichen Anstrich: Aus „al-Qaida im Irak" wurde im Herbst 2006 der „Islamische Staat im Irak". Nach jahrelangem Krieg wollten die meisten Sunniten aber endlich Frieden. Schon gar nicht wollten sie sich der mittelalterlichen Auslegung des Islam unterwerfen, wie sie Baghdadi vorschwebte, der aus Samarra stammt und noch unter Saddam Hussein einen Doktor in islamischem Recht erworben hatte. Als al-Qaida auch noch – wie jetzt in Syrien – Morde an rivalisierenden Rebellen verübte, wuchs der Unmut immer mehr.
Es war die Geburtsstunde der „Sahwa"-Bewegung, des Aufstands der Sunniten gegen die Extremisten. Die Amerikaner nutzten die Gunst der Stunde und holten die Sunniten ins Boot, indem sie mit Stammesvertretern Koalitionen schlossen und ihre Kämpfer dafür bezahlten, dass sie die Waffen gegen al-Qaida richteten. Als die US-Truppen im Dezember 2011 aus dem Irak abzogen, gab es etwa 100.000 solcher Milizionäre.
Doch kaum hatten die Amerikaner das Land verlassen, kündigte der damalige irakische Ministerpräsident, Nuri al-Maliki, den Pakt mit den Sunniten auf. Mit zweifelhaften Haftbefehlen ging der Schiit gegen prominente sunnitische Politiker vor. Tausende von Sunniten landeten unter fragwürdigen Terrorvorwürfen im Gefängnis. In Anbar und anderen Landesteilen gingen Zehntausende auf die Straßen und errichteten Protestlager. Es war die Geburtsstunde des zweiten sunnitischen Aufstands seit dem Sturz des Saddam-Regimes durch die Amerikaner im Jahr 2003. Auftrieb erhielten die Sunniten durch den Aufstand ihrer Glaubensbrüder in Syrien.
Das wiederum bestärkte Maliki in seiner harten Haltung, weil er wie die meisten Schiiten fürchtete, die neu gewonnene Macht im Irak zu verlieren. Im April 2013 stürmten seine Truppen ein Protestcamp im Nordirak und töteten mehr als 50 Personen, neun Monate später räumten sie auch das Protestlager in Anbar gewaltsam - und öffneten damit dem IS die Tore.
Systematisch aufgebaut
In einer verheerenden Fehleinschätzung verkannte Maliki, dass er mit Baghdadi einen gewieften Strategen gegen sich hatte, der aus den Fehlern seines Vorgängers gelernt hatte. Nach Beginn des Aufstands baute sich Baghdadi systematisch eine Operationsbasis in Syrien auf. Im Irak überfiel er gezielt Gefängnisse, wodurch Hunderte erfahrene Kämpfer frei kamen.
Im April 2013 fühlte er sich so stark, dass er den Zusammenschluss mit dem syrischen Al-Qaida-Ableger zum Islamischen Staat im Irak und Syrien verkündete. Zwar lehnte die Al-Qaida-Zentrale den Schulterschluss ab, geschadet hat es den Extremisten nicht. Als sie die syrische Stadt Rakka einnahmen, waren viele Bewohner sogar froh, dass damit die Fehden zwischen den verschiedenen syrischen Rebellengruppen ein Ende hatten und ein gewisses Maß an Ordnung einkehrte.
Auch in Mosul, der zweitgrößten irakischen Stadt, begrüßten im Juni viele Sunniten die Kämpfer. Viele waren nicht nur froh über den sang- und klanglosen Abzug der schiitischen Soldaten und Polizisten, sondern auch über den Rückzug der Kurden. Im Zentralirak ist es der Konflikt mit den Schiiten, der den Extremisten in die Hände spielt, im Nordirak wiederum der Streit mit den Kurden um Land und Öl.
In Mosul setzte sich Baghdadi die Krone auf, in dem er sich im Juli kurzerhand zum Kalifen und sich damit zum Oberhaupt des Islamischen Staats erklärte. Kalif Ibrahim, wie sich Baghdadi heute nennt, ist gnadenlos. Hunderte schiitische Soldaten und Angehörige der Minderheit der Jesiden im Irak sowie syrische Soldaten und sunnitische Gegner haben die Fanatiker brutal ermordet. Westliche Journalisten und Helfer haben sie vor laufender Kamera enthauptet.
Aber Baghdadi ist nicht nur ruchlos und gnadenlos. Sowohl in Syrien wie im Irak hat er gezeigt, dass der IS keineswegs eine klassische Terrororganisation ist. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Zarkawi legt Baghdadi in dem vom IS beherrschten Gebieten einen erstaunlichen Pragmatismus an den Tag. Sunnitische Soldaten oder Polizisten im Irak, die der Regierung abschwören, werden nicht mehr umgebracht.
In Rakka, den eroberten Ölfeldern oder in Mosul beschäftigt der IS die staatlichen Angestellten weiter und zahlt ihre Gehälter. An Schulen und Universitäten gilt Geschlechtertrennung, geschlossen wurden sie aber nicht. Was den IS so gefährlich macht: Er ist im Kampf taktisch anpassungsfähig, zugleich pragmatisch in der Verwaltung. Mit Luftangriffen und Bodentruppen - schiitischen Milizionären, kurdischen Kämpfern, syrischen Rebellen und irakischen Soldaten, alle mit eigener Agenda - ist der Krieg kaum zu gewinnen.
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