Terror in Hanau: Für immer in die Seele gebrannt
Eine Analyse der Täter ist für die Prävention unabdinglich. Damit der Terror nicht gewinnt, müssen wir aber vor allem die Opfer sichtbar machen.
I srael im Jahr 2004 war ein zerrissenes Land. Terror, Hass, Polarisierung bestimmten den Alltag. Es war ein regnerischer kalter Morgen, an dem der Terror in meine unmittelbare Nähe kam. Ich saß im Auto, der Verkehr bewegte sich nur sehr langsam. Ich wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, hörte Musik. Plötzlich kamen mir Menschen entgegengerannt und liefen an mir vorbei. Für ein paar Sekunden verstand ich nicht, was da passierte. Dann sah ich den Terroristen.
Er schoss mit seinem Maschinengewehr auf die umstehenden Wagen. Im nächsten Augenblick traf ihn der tödliche Schuss eines israelischen Soldaten. Es waren die schrecklichsten Minuten meines Lebens. An diesem Tag habe ich mir gesagt: Ich mache das nicht mehr mit. Hier und auf diese Weise will ich nicht leben. Auf der Stelle kündigte ich meine Arbeit und nahm Abschied von den Kollegen. Mit zwei Koffern und viel Hoffnung kam ich wenige Tage darauf in Berlin-Tegel an. Es war ein Neustart in neuer Umgebung.
Doch bis heute denke ich an den schrecklichen Moment der Todesgefahr zurück. Ich wurde nicht körperlich verletzt, aber in meiner Seele hat sich das Erlebnis für immer eingebrannt. In dieser Woche musste ich wieder an meine alte Heimat denken: die Unsicherheit, die Angst und die Zerrissenheit. Jetzt ist aber meine neue Heimat vom Terror betroffen.
Was ich hinter mir lassen wollte, begegnet mir nun hier wieder: in Gestalt dieses hasserfüllten, rechtsextremen und offensichtlich psychopathischen Terroristen Tobias R. aus Hanau. Ich glaube, dass in diesen Tagen viele Menschen ähnlich empfinden wie ich. Sie haben Angst um sich und ihre Familien, fühlen sich unsicher. Damit sind auch sie – in einem weiteren Sinne – zu Opfern des Anschlags von Hanau geworden.
Amri kennt jeder, von den Opfern wissen wir nichts
Ich wünsche mir, dass wir – als Gesellschaft und die Medien gleichermaßen – jetzt nach dem Anschlag in Hanau den Opfern mehr Aufmerksamkeit schenken. Wir dürfen die Fehler nach dem islamistischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche im Dezember 2016 nicht wiederholen. Damals und bis heute werden die Familien der Opfer und die Verletzten stiefmütterlich behandelt.
Sie wurden nicht genug unterstützt und teilweise vom Staat in der Bewältigung der bürokratischen Hürden, beim Suchen und Finden von nötiger Unterstützung im Stich gelassen. Heute weiß jeder, wer der Attentäter Anis Amri war, aber von den Opfern wissen wir kaum etwas. In Neuseeland wurde es nach dem Anschlag in Christchurch genau umgekehrt gehandhabt: Nicht der Name des Attentäters wurde veröffentlicht, sondern ausschließlich die der Todesopfer.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Analyse des Täters und seiner Motive ist ohne Zweifel unerlässlich, um zu verstehen, woher die Gefahr droht, welche Ursachen dieser Terror hat und vor allem, um Ansätze zu finden, sich dagegen zu schützen – auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch ganz individuell. Erst wenn man weiß, wie die Täter zu Tätern wurden, kann es gute und gezielte Prävention geben. Daher sind Erkenntnisse über Täterprofile und Tätergruppen zentral – sowohl aus psychologischer als auch politischer Perspektive.
Ohne klare Erkenntnisse bleibt uns nur hilflose Empörung und Trauer. Die Täteranalyse hilft auch dabei, Angst und Kontrollverlust zu verringern, rationaler und zielgerichteter zu handeln. Die Tränen der Opfer und Hinterbliebenen allein können keinen erneuten Terror verhindern. Doch die Angehörigen brauchen unsere Solidarität im Alltag. Ihr Leben wurde zerstört, sie werden nie wieder so leben wie vor dem Anschlag.
Ohne Erkenntniss über den Täter bleibt uns nur Hilflosigkeit
Sie verloren Menschen, die ihnen nahestanden, und werden die Trauer und das Trauma bis ans Ende ihres Lebens in sich tragen. Deshalb müssen diese Menschen sehr lang begleitet und unterstützt werden, nicht nur für die nächsten paar Tage, sondern lebenslang. Auch die Opfer sollten wir als solidarische Gesellschaft in unserer Erinnerung verewigen, denn sie dürfen nicht nur eine Zahl bleiben. Hinter jedem dieser Opfer steht ein Leben, eine Familie, ein Gesicht, ein Name.
Damit der Terror nicht gewinnt, müssen wir genau diese Opfer in unserer Gesellschaft sichtbar machen. Die Verletzten haben noch einen sehr langen Weg vor sich, bis sie, wenn überhaupt, wieder gesund werden. Egal wie schwer eine körperliche Verletzung ist, alle Betroffenen werden in den nächsten Wochen und Monaten mit Schmerzen, Operationen, Rehabilitation, Therapien zu tun haben. Noch viel länger bleiben die Verletzungen und Narben auf der Seele, die psychologischen Folgen spürbar.
Bis zu 40 Prozent der Menschen erleiden in der Folge solcher Erlebnisse posttraumatische Belastungsstörungen. Hinzu kommen Panikattacken, Schlafstörungen und Depressionen, die häufigsten Störungsbilder bei Verletzten und Überlebenden von Terroranschlägen. Diese Menschen sind in ihren Grundelementen erschüttert, das zuvor existierende Sicherheitsgefühl und Grundvertrauen in sich, die Welt und die Mitmenschen ist nachhaltig beschädigt.
Schwierige Alltagsbewältigung
Durch das Fehlen dieses Vertrauens bekommen sie Schwierigkeiten, ihren Alltag zu gestalten. So kann allein der Schritt aus dem Haus, zum Einkauf zu einer beinahe unüberwindbaren Herausforderung werden. Viele Betroffene solcher Ereignisse berichten über ein Gefühl des sprachlosen Entsetzens, wenn sie sich an den Terror zurückerinnern. Oftmals sind sie unfähig auszudrücken, in Worte zu fassen, was sie erlebt haben.
Erst mit Hilfe mühsamer Therapien werden sie wieder ein halbwegs normales Leben führen können, jedoch werden die Bilder von diesem Abend, die Schreie, die Panik, das Blut, die Toten sie noch sehr lange begleiten. Aber auch Menschen, die an diesem Abend nicht direkt dabei waren, sind davon indirekt betroffen. Es leiden diejenigen, die eine subjektive Nähe zu den Orten des Anschlags fühlen.
Ahmad Mansour
ist gebürtiger Israeli und lebt seit 2004 in Deutschland. Der studierte Psychologe ist Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention.
Vielleicht waren sie wenige Stunden vorher in der Nähe oder kennen die Shishabars, Dönerläden, Weihnachtsmärkte von früheren Besuchen. Oder sie kennen gar eines der Opfer persönlich. Nach einem solchen Anschlag sollten wir auch an die vielen Menschen denken, die sich aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe als potenzielle Ziele verstehen und deshalb in Deutschland unsicher fühlen. Denn der rechtsextreme Terrorist von Hanau suchte offenbar gezielt Menschen mit Migrationshintergrund.
Er mordete und verletzte sie einzig aufgrund ihrer Herkunft oder Religion. Da hilft es wenig, darauf hinzuweisen, dass Deutschland immer noch eines der sichersten Länder der Welt ist. Gegen ein subjektives Gefühl der Verunsicherung kann man mit Zahlen nicht argumentieren, sondern nur durch Dialoge und Gespräche Hilfe anbieten. Ich bedauere es sehr, dass wir für diese Menschen kaum etwas tun.
Ich denke an die vielen Flüchtlinge, die ihre Heimat verließen, um in Deutschland Sicherheit zu finden, und die heute auch hier in Deutschland um ihr Leben fürchten. Ich denke an die Schülerinnen und Schüler, die ich direkt und in den Tagen nach dem Anschlag in Hanau während eines meiner Projekte traf, und die sich vor Aufregung kaum konzentrieren konnten. Sie wollen reden und verstehen, was kaum zu verstehen ist. Diese Menschen dürfen wir nicht im Stich lassen.
Terror zielt darauf ab zu verunsichern und zu polarisieren
Ich wünsche mir, dass bei nächstmöglicher Gelegenheit einige Unterrichtsstunden dazu genutzt werden, mit Schülerinnen und Schülern über Hanau zu sprechen, über Hass und Extremismus, über die Ängste der Kinder und Jugendlichen und ihre Befürchtungen. Wir dürfen nicht ohne eine pädagogische Aufarbeitung zum Alltag zurückkehren, als sei nichts passiert.
Denn genau das wollen Terroristen erreichen: Schmerz zufügen, Angst schüren, den sozialen Zusammenhalt schwächen und die Polarisierung der Gesellschaft vorantreiben. Sie sind zu schwach, um eine ganze Gesellschaft physisch anzugreifen. Deshalb zielen sie mit ihren Taten auf vermeintliche „safe spaces“, sichere Orte, denn wenn sich niemand mehr sicher fühlt, das Vertrauen in andere Menschen zerfällt, zerfällt jede Gegenwehr.
Um genau das zu verhindern, müssen wir solidarischer agieren, den Zusammenhalt stärken und den Ängsten begegnen, sie ernst nehmen, mit den Menschen darüber reden, auf ihre Bedürfnisse reagieren, Empathie zeigen und ihre Sorgen ernst nehmen.
Denn vor uns liegt ein langer Prozess der Aufarbeitung, und neben der wichtigen Beschäftigung mit dem Täter, seinen Beweggründen, seiner rechtsextremen Ideologie und der Bekämpfung von Wegbereitern und Brandstiftern und terroristischen Netzwerken und Strukturen sollten wir die Opfer und Betroffenen in unsere Mitte nehmen, uns um sie kümmern und Dialoge mit ihnen suchen.
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