piwik no script img

Teilwahlen in GroßbritannienNigel Farage kann feiern

Die Rechtspopulisten von Reform UK gewinnen eine Nachwahl zum britischen Parlament und holen auch weitere Erfolge. Aber Labour verliert nicht überall.

Nigel Farage freut sich über den Sieg bei den Nachwahlen in Runcorn und Helsby Foto: Phil Noble/reuters

Berlin taz | Großbritanniens rechtspopulistische Partei Reform UK unter Führung von Nigel Farage hat die Nachwahl um den nordwestenglischen Parlamentssitz Runcorn & Helsby gewonnen – mit dem knappsten denkbaren Ergebnis. Nur sechs Stimmen beträgt der Vorsprung der Reform-Kandidatin Sarah Pochin vor der Kandidatin der regierenden Labour-Partei. Bei der ersten Auszählung der Wahl vom Donnerstag in der Nacht waren es sogar nur vier Stimmen gewesen; Labour beantragte dann eine komplette öffentliche Neuauszählung, deren Ergebnis am Freitagmorgen vorlag: 12.645 Stimmen für Reform UK, 12.639 für Labour.

Sie habe „Geschichte geschrieben“ und ihr Sieg sei der Sieg „hart arbeitender Menschen, die einfach Fairness wollen“, sagte Pochin in ihrer Siegesrede. „Genug ist genug. Genug Tory-Versagen, genug Labour-Lügen. Jeder von euch, der für den Wandel gestimmt hat, jeder von euch, der sein Vertrauen in Nigel Farage als nächster Premierminister diese großen Landes gesetzt hat (…) ich werde euch dienen und für euch sprechen“.

Reform UK jetzt gleichauf mit Labour

Bei den Parlamentswahlen 2024 hatte Labour den Sitz in der Nähe von Liverpool noch mit 53 Prozent der Stimmen gewonnen, Reform UK hatte mit 18 Prozent den zweiten Platz belegt. Jetzt kommen beide Parteien auf je 38,3 Prozent. Es folgen die Konservativen, die von 16 auf 7 Prozent abstürzen, die Grünen mit ebenfalls 7 Prozent und die Liberaldemokraten mit 2 Prozent.

Für Reform UK, das damit die Zahl seiner Unterhausabgeordneten wieder auf 5 erhöht – von den fünf, die bei der Parlamentswahl gewählt worden waren, ist einer inzwischen aus der Partei geflogen, weil er Farage kritisiert hatte – ist dieser Sieg erst der Anfang. Am Donnerstag standen ebenfalls die Distriktverwaltungen in weiten Teilen Englands sowie eine Reihe von Regionalbürgermeisterposten zur Wahl. Auch hier zeichnen sich eine Reihe von Reform-Durchbrüchen ab.

Rechtspopulisten stellen Regionalbürgermeister

So stellen die Rechtspopulisten zukünftig den Regionalbürgermeister von Greater Lincolnshire, ein Agrargebiet im Osten Englands mit 1,1 Millionen Einwohnern und in der Vergangenheit eine Brexit-Hochburg wegen der Abhängigkeit von osteuropäischen Billig-Saisonarbeitern in der Landwirtschaft. Mit der neuen Reform-Bürgermeisterin Andrea Jenkyns geht erstmals in Großbritannien ein solcher Posten weder an Labour noch an die Konservativen. Sie gewann souverän mit 42 Prozent gegen die Konservativen mit 26 Prozent an zweiter Stelle.

Nur ganz knapp verfehlte Reform UK weitere Wahltriumphe. Die regierende Labour-Partei behielt zwar die Bürgermeisterposten in der nordenglischen Industriestadt Doncaster, in der Großregion Bristol („West of England“), im Westen des Landes und in der Großregion North Tyneside außerhalb von Newcastle im Nordosten Englands – aber teils nur mit hauchdünnen Vorsprüngen: in Doncaster gewann Labour mit 32,6 gegen Reform auf 31,6 Prozent, in North Tyneside mit 30,2 gegen 29,4 Prozent. In Bristol gewann Labour mit 25 Prozent vor Reform auf 22 und den Grünen auf 20 Prozent.

Lincolnshires neue Regionalbürgermeisterin Andrea Jenkyns ist eine Überläuferin zu Reform von den Konservativen, ebenso wie Runcorns neue Unterhausabgeordnete Sarah Pochin. Reform-Chef Farage hat es sich erklärtermaßen zum Ziel gemacht, erst die Konservativen als Hauptoppositionskraft abzulösen und dann auch Labour als Regierungspartei. In landesweiten Meinungsumfragen liegt Reform UK seit einigen Wochen konstant an erster Stelle mit durchschnittlich 26 Prozent, sie hat die Konservativen längst in der Anzahl von Mitgliedern überholt.

Viele der jetzt neugewählten Regionalverwaltungen sind traditionelle konservative Hochburgen und waren beim letzten Mal 2021 gewählt worden, zum Höhepunkt der Popularität des damaligen Tory-Premierministers Boris Johnson. Insofern war ein überdurchschnittlicher Einbruch der Konservativen jetzt allgemein erwartet worden – aber offen blieb, ob davon ausschließlich Reform UK profitiert oder auch die Liberaldemokraten und Grünen, die sich gute Chancen bei der jüngeren bürgerlichen Wählerschaft ausrechnen.

Erste Teilergebnisse am Freitagvormittag bestätigten starke Verluste der Konservativen und zunächst starke Gewinne für Reform UK, das 2021 noch gar nicht existierte. So ging ein lokaler Wahlkreis in Boston, der Hauptstadt von Lincolnshire, mit rund 50 Prozent an Reform UK, während die Konservativen von 52 auf 20 Prozent abstürzten und Labour von 19 auf 9.

Es sei eine „phänomenale Nacht“, freute sich Reform-Führer Farage am Freitagmorgen. Seine Partei habe Runcorn & Helsby gewonnen, „weil es in diesem sehr patriotischen Wahlkreis irgendwie den Eindruck gab, dass Labour nicht mehr für diese Werte steht“. Und er bejubelte das sich abzeichnende Debakel der Konservativen als Bestätigung seiner Strategie: „Wir erleben das Ende einer Partei, die sich seit 1832 hält, sie sind dabei zu verschwinden.“ Die Führungen von Labour und den Konservativen schwiegen zunächst.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Der guardian attestiert eine Zersplitterung der politischen Landschaft nach einer Prognose des BBC zu einem landesweiten Wahlergebnis nach der Methode indem die Kommunalwahl-ergebnisse auf das gesamt Land hochgerechnet wurden:

    -----Reformpartei 30 %



    ====



    -----Labour 20 %



    -----Liberaldemokraten17 %,



    -----Konservative15 %



    -----Grüne 11 %.

    Demnach haben sich knapp ein Driitel der UK Wähler von der Demokratie verabschiedet, in der Bundesrepublik sind es momentan ein Viertel der Wähler (AgD), in Kanada sind es 40 % der Wähler (Liberale als auch Rechtspopulisten gewannen jeweils über 40 Prozent der Stimmen) und in Australien wird heute ein ähnlich knappes Ergebnis (für oder gegen Demokratie?) erwartet.

    Weltweit verliert die Demokratie - und Rechtspopulisten (in der Bundesrepublik sind es Rechtsradikalpopulisten da sie sich stärker als anderswo am Nationalsozialismus orientieren) gewinnen dazu -



    trotzdem jeder live beobachten kann was Rechtspopulismus - siehe USA - bedeutet.

    Fragen über Fragen ........

    Rechtspopulismus ist eine internationale Welle welche die Demokatien in vielen Ländern vor sich hertreibt.

  • N. Farage als PM. Dagegen war Boris Johnson ein seriöser Typ. Das Volk wählt bescheuerte Typen (Orbán, Wilders, Merz, Meloni, Trump, Farage) und fragt sich, warum alles schlechter wird.

  • Clown-Parteien haben dann eine Chance, wenn das politische bestehende System zum einen lächerlich gemacht wird, zum anderen auch gewisse Funktionen nicht abdeckt: Labour nach Corbyn deckt die breite Masse kaum ab. Die Tories wirken wie die rhetorischen Vorglüher von Rechtsradikalen ohne sonstige Inhalte.



    Gute Nachricht: Das wäre beides lösbar.

  • Auch hier, genau wie in DE. Woher kommt der Frust, solche Typen zu wählen?



    Keine Diskussion, keine Ursachenforschung oder eigene Fehleranalyse. Nirgends.

    • @Tom Farmer:

      Ich fürchte fast, dass das auch Menschen sind, die denken, die "Demokratie" müsse immer mal bei Ihnen zuhause vorbeischauen und Ihnen die Wünsche von den Augen ablesen.

    • @Tom Farmer:

      Die regierenden Sozialdemokrat*innen waren einfach zu marktradikal gewesen, was die Ungleichheit verschärfte, und so die Rechtspopulisten mehr Bauern fangen konnten.

      • @Ice-T:

        Ich bin für jegliche Ursachenforschung thematisch offen. Für Kurzanalysen die Stichworte wie marktradikal, neoliberal, Ungleichgewicht, unsozial.... enthalten, nicht. Für mich an den Haaren herbeigezogene Stichworte um die eigene Überzeugung zu stützen.



        Zur Erinnerung: Bei uns wählen oft "gut versorgte Bürger" die AfD. Unsere Freunde in UK, beide Vollzeitkräfte haben damals pro Brexit gestimmt. In den USA hat das Schlagwort "Antiwoke" die Wahl mitentscheiden. Die mit "sozial und gerecht" haben die Wahlen verloren.



        Daher sollte auch Ihre Analyse ggf. etwas weiter gefasst werden.

    • @Tom Farmer:

      Man steht einmal mehr fassungslos davor. Der Lügenbaron Farage, der die Briten in den größten Irrsinn ihrer Geschichte (Brexit) gelogen und getrickst hat ist wieder obenauf.



      Wenn einer dem britischen Gemeinwesen geschadet hat dann er. Dass die Leute von den Tories und teilweise auch von Labour tief enttäuscht sind ist ja verständlich, aber hier wird der Bock nicht nur zum Gärtner, sondern zum Landwirtschaftsminister gemacht. Kann doch nicht sein, dass einem als Alternative immer diejenigen einfallen, die den Karren aber mit Sicheheit mit Vollgas noch tiefer in die Grütze fahren.

      • @Bambus05:

        Ja, so empfinde ich das auch!