: Tarifautonomie und Tarifvertrag
■ Das Tarifwesen als Marktprozeß / Unterschiede zur Arbeitsgesetzgebung in der DDR
Der rote Faden
Teil 11
In der marktwirtschaftlichen Sozialordnung haben die Tarifautonomie und das auf ihr beruhende Tarifwesen zentrale Bedeutung:
1. Tarifautonomie ist als Garant demokratischer Selbstbestimmung und Teilhabe abhängig Beschäftigter in der Geschichte oft gegen schwerste Widerstände durchgesetzt und verteidigt worden. Sie sichert als solche einmal die kollektive Selbstbehauptung von Arbeitnehmer/innen gegen die ökonomische und sozial überlegene Seite der Arbeitgeber. Zum anderen soll sie gesellschaftliche Selbstregulierung vor staatlicher Bevormundung und staatlichem Eingriff schützen. Beide Zielsetzungen haben sich in einer verfassungsrechtlich geschützten und durch Gesetz ausgestalteten kollektiven Autonomie niedergeschlagen.
2. Zugleich ist das Tarifwesen aber ein Marktprozeß. Jede Tarifrunde und erst recht jeder Arbeitskampf zeigen, daß sozialpolitisch befriedigende Arbeitsbedingungen nicht schon mit der Tarifautonomie „gegeben“ sind, sondern durch die vom Arbeitsmarkt mitgestalteten Kräfteverhältnisse beeinflußt werden. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kann das Ergebnis sehr zweischneidig sein. Gerade da wird deutlich, daß sozialer Fortschritt des Ineinandergreifens der kollektiven Autonomie und zwingender gesetzlicher Mindeststandards bedarf. Es ist kein Zufall, daß radikale Befürworter des Marktprinzips auch die Regulierung aller Arbeits- und Lebensbedingungen dem Tarifwesen zur Disposition stellen wollen.
Erste Tarifverträge sind in der DDR abgeschlossen worden, weitere werden rasch folgen. Mit Wirkung vom 1. Juli 1990 ist - geringfügig verändert und mit Übergangsregelungen versehen - das Tarifvertragsgesetz - TVG - der Bundesrepublik übernommen worden (GB1. I S. 362). Gleichzeitig sind die §§ 1 - 14 des Arbeitsgesetzbuches der DDR - AGB - außer Kraft getreten (GB1. I S. 372). Damit verändert sich das Regulierungssystem für die Arbeits- und Lebensbedingungen der in der DDR Beschäftigten fundamental. Was ändert sich am Tarifwesen?
1. Tarifautonomie
„Tarifsystem“ und „Rahmenkollektivverträge“ gehörten zwar zu den Regelungsinstrumenten des Arbeitslebens in der DDR. Aber sie hatten nur begriffliche Ähnlichkeiten mit den Instrumenten des TVG. Das Tarifsystem war die Summe staatlicher Bestimmungen zur Festlegung der Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Angestellten. Die Rahmenkollketivverträge waren (mit dem FDGB oder den Gewerkschaften) „vereinbarte Normativakte“, die mit der Registrierung durch das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne wirksam und ähnlich einer staatlichen Anordnung verbindlich wurden.
Das System des Grundgesetzes - GG - und des TVG trennt im Tarifwesen hoheitliche und private Funktionen viel stärker. Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) räumt den Gewerkschaften nicht nur Zuständigkeiten ein (wie sie etwa § 14 AGB enthielt), sondern die Autonomie, innerhalb des grundgesetzlich bestimmten Wirkungskreises Ziele und Mittel des tarifpolitischen Handelns selbst zu bestimmen (Tarifautonomie); auf die Bedeutung der Koalitionsfreiheit wird in einem Artikel des „Roten Fadens“ eingegangen. In dieser Autonomie unterscheidet sich das TVG klar vom BetrVG, das für betriebliche Verhandlungen genaue Zuständigkeiten festlegt (etwa § 87 BetrVG).
Das TVG regelt formal, wer und in welcher Form und mit welcher Wirkung Tarifverträge abschließen kann. Es systematisiert in gewissem Umfang die Gegenstände frei ausgehandelter kollektiver Vereinbarungen (dazu unten 4. und 5.). Es legt aber nicht fest, worüber Tarifverträge abgeschlossen werden dürfen und worüber nicht. Daß ein Gesetz von derart überragender sozial- und gesellschaftspolitischer Bedeutung wie das TVG ganze 13 Paragraphen aufweist, mag auf den ersten Blick überraschen. Der tiefe Grund dafür ist die Tarifautonomie.
2. Staatsferne
Die Kehrseite der Tarifautonomie ist, daß das Tarifwesen relativ frei von staatlichen Vorgaben und Eingriffen zu bleiben hat. Im Gegensatz zum früheren Tarifsystem und den Rahmenkollektivverträgen in der DDR ist nach dem TVG der Staat nicht direkt als Hoheitsträger im Tarifwesen gegenwärtig. Tarifvertragsparteien sind Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber sowie Zusammenschlüsse von Arbeitgebern (§ 2 Abs. 1 TVG). Kollektivvertragliche Normen setzen kann der Staat nur, wo er selbst Arbeitgeber ist und Tarifverhandlungen führt (öffentlicher Dienst). Im übrigen hat er sich darauf zu beschränken, rechtliche Rahmenbedingungen für das Tarifgeschehen zu bestimmen und zu garantieren, die kollektivvertragliche Normsetzung selbst aber den Tarifvertragsparteien zu überlassen. Deshalb wird nach dem TVG - anders als im Falle der vereinbarten Normativakte nach dem früheren AGB der DDR - ein Tarifvertrag nicht erst wirksam, wenn er registriert ist. Er bedarf zu seiner Wirksamkeit lediglich der Schriftform (§ 1 Abs. 2 TVG). Wohl besteht eine Mitteilungspflicht gegenüber dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (§ 7 TVG), das ein Tarifregister führt (§ 6 TVG). Aber beides dient nur der Transparenz und Öffentlichkeit des Tarifwesens und hat nichts mit der Geltung der Tarifverträge zu tun.
3. Tarifbindung
Aus der Tarifautonomie erklärt sich auch, daß Tarifverträge unmittelbar und zwingend nur „zwischen den beiderseits Tarifgebundenen“ gelten (§ 4 Abs. 1 Satz1 TVG). Das sind nach § 3 Abs. 1 TVG die Mitglieder der Tarifvertragsparteien (also der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), ggf. auch ein einzelner Arbeitgeber, wenn mit diesem ein sog. Haus oder Firmentarifvertrag abgeschlossen wurde. Das Erfordernis einer Tarifbindung - also der Zugehörigkeit zu einem tarifschließenden Verband - unterscheidet die Geltung von Tarifverträgen in doppelter Weise:
-von der Geltung der Rahmenkollektivverträge nach dem AGB, die in ihrem fachlichen Geltungsbereich alle Betriebe und damit Beschäftigten umfaßten,
-aber auch von der Geltung von Betriebsvereinbarungen, die nach § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG für alle Beschäftigten des Betriebes unmittelbar und zwingend gelten.
Das Erfordernis der Tarifbindung ergänzt und bestätigt das System der Tarifautonomie: Nicht nur soll die Aushandlung von Kollektivverträgen autonomen Verbänden vorbehalten bleiben; die Einzelnen (Arbeitnehmer wie Arbeitgeber) sollen darüber hinaus die Freiheit behalten, sich durch Verbandsbeitritt diesen kollektivvertraglichen Regelungen zu unterwerfen oder nicht. Auf Ausnahmen wird im nächsten Teil hingewiesen.
Ulrich Mückenberger Der Autor ist Professor für Arbeitsrecht in Hamburg. Die ersten zehn Teile der Serie können gegen DM 4,- bestellt werden bei: taz-Archiv, z. Hd. Randy Kaufmann, Kochstr. 18, 1 Berlin 62.
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