Tapfer, aber nicht glücklich

Und es gab sie doch, die gesamtdeutsche Stunde Null: Anmerkungen zu Heukenkamps Lexikon der Berliner Nachkriegsliteratur  ■ Von Fritz v. Klinggräff

Gleich nach dem Krieg lernte ich, weil mein Vater mit ihnen befreundet war, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Klaus Nonnenmacher kennen. Die Menschen vor ihren Werken“, erinnert sich Heinz Ludwig Arnold. „Ich dachte, es wäre schön, auch so einer zu werden.“ 1995, zum fünfzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation warfen die literarischen Blätter ihre Jubiläumsgaben auf den Markt. Hoch im Kurs stand oral history: „Die Menschen vor ihren Werken“. Zuvörderst der alte Heinz Ludwig Arnold mit seinem „Text und Kritik“-Sonderband „zur deutschen Literatur nach 1945“. Auf alberne Fragen nach frischgebliebener Erinnerung bekam er von Urs Widmer freundliche Worte.

Woanders reagierte man eher ruppig. Im Band zwei der Reihe „Zur Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Nenzel Verlag, Bonn) schnoddert Elfriede Jelinek: „Ich finde, die Gruppe 47 war eine Sadistenvereinigung, an der ich nicht einmal unter Todesandrohung teilgenommen hätte.“ So verlief das Jahr 95. Mit mäßig sentimentalen Zeitreisen in den Schoß der literarischen Großfamilie.

Übers Jahr nun haben auch die Wissenschaftler ihre Arbeiten abgeliefert. Daß sie dafür mehr Zeit brauchten als ihre belletristischen Kollegen, ehrt sie. Daß sie statt allzu menschlichen Memorierens lieber Geschichte umschreiben, entspricht dem natürlichen Hang der Wissenschaften zur Revolution. Was dabei herausgekommen ist, soll im folgenden an der Lektüre eines dicken Sammelbandes zur „Nachkriegsliteratur in Berlin 1945–1949“ vorgestellt werden. Der Titel: „Unterm Notdach“. Herausgeberin ist Ursula Heukenkamp, Germanistin an der Humboldt Universität.

Heukenkamp und ihre Mitarbeiter haben, sie will das „nicht verschweigen“, einen ostdeutschen Erwartungshintergrund: „Staatskrisen und ihre Folgen sind unser Teil der Geschichtserfahrung.“ Berlin, so die Vorstellung, gehorchte nach 1945 einem retrospektiven Wiederholungszwang: So wie es „uns“ nach 1989 erging, so wird es auch den Borchert und Schnurre, Wiechert und Andersch in den Jahren zwischen Kapitulation und Währungsunion ergangen sein. Worin die Folgen der „Staatskrise“ von 1945 bestanden, sagt Ursula Heukenkamp auch: nämlich in der „Spannung zwischen Intendiertem und schließlich eingetretenem Resultat“. Die Literaten nach dem Krieg, sie waren tapfer – aber glücklich waren sie nicht.

Kleiner Zugewinn an Selbstvergewisserung

Die Jahre der politischen Zäsur schreiben ihre Geschichten neu – mit der Kulturgeschichte nach 1989 ist das nicht anders. Fürs eigene Dasein erhofft man sich damit einen kleinen Zugewinn an Selbstvergewisserung. Dieses Buch will dem literarischen Leben im Berlin nach der Kapitulation endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es ist an der Zeit. Denn auch nach 1990 schickt man in die Bibliotheken und Schulen noch Sozialgeschichten, die das literarische Leben der Nachkriegszeit kaltblütig unter „Teilungsgeschichte“ oder „Vorwährungsreform“ abheften. Die schreiben solche Sätze, wie sie bei Volker Wehdeking/Günter Blamberger zu finden sind: „Die Kulturpolitik der SBZ/DDR machte die Reportage von Anfang an den Interessen der Partei dienstbar.“ Solche Sätze fände Ursula Heukenkamp doof.

Das literarische Feld nach dem Krieg hatte doch seine eigene Integrität. Ursula Heukenkamp sagt auch ganz freimütig, warum das so sein soll. Ihr Ziel ist eine Kulturgeschichte der deutschen Literatur, die sich über alle politischen Zäsuren hinwegsetzt. Jetzt und immerdar die deutsche Literatureinheit. Endlich jenseits aller Teilungen in Nazis, Sozis, Wessis. In dieser neuen Geschichte der deutschen Literatur könnte die bittersüße Berliner Nachkriegszeit mit ihrer ausgemergelten Hungerleider- rhetorik, plötzlich zu einem strahlenden „Dreh- und Angelpunkt“ werden: „Konservenbüchse:/ Mein Teller, mein Becher/ Ich hab in das Weißblech/ Meinen Namen geritzt.“ Die Kahlschlagsliteratur von Günter Eich & Co als Grundpfeiler: Um sein Zentrum herum wirbelt schneller und sich immer gleicher werdend die Welt der „einen“, der deutschen Literatur. Und dann und wann ein weißer Emigrant.

Die Zeit der Jahre 1945–49 also. Es war eine schöne Zeit, so erzählt uns das Buch. Schwer, aber schön. Vor dem Fressen kam die Moral. Die Gründe beschreibt der Theaterkritiker Friedrich Luft: „Man lebte in den Ruinen und dabei wie auf dem Mond. Trotzdem regten sich die Künste dieser Stadt zuerst. Sie regten sich sofort hektisch. Das ist gar nicht so unverständlich. Ein einziges Paar Schuhe herzustellen, wäre unmöglich gewesen. Aber ein Gedicht konnte man produzieren, wenn auch vorerst nicht drucken.“ Eine Zeit also, in der man es nicht böse meinte mit der Zukunft. In den literarischen Halbjahresblättern causierte man über Schuldfrage, Geschichtsbild und Erziehungsprobleme, handfestere Probleme löste Elisabeth Langgässer auf der Treppe: „Geistig zu arbeiten ist eine heroische Anstrengung. Manchmal laufe ich die Treppe unseres Häuschens sinnlos herauf und wieder herunter, um mir irgendeine Tätigkeit vorzutäuschen, damit die Zeit zwischen den Mahlzeiten sich verkürzt.“

Signum der Epoche waren der allgemeine Erneuerungswille und moralische Radikalität. Zumindest unter den Literaten. Wenn auch das Pathos bei den jüngeren Kriegsheimkehrern noch manchmal ins Faschomäßige abrutschte: „Allmählich dämmert unter der Totenmaske der nationalen Machtansprüche das wahre Gesicht der Völker herauf. Nirgends stärker als in Deutschland, wo die Maske nicht abgenommen wird, sondern klirrend zerspringt unter den Hammerschlägen eines tragischen Geschicks“ (Alfred Andersch). Es gab in Berlin trotzdem die berühmte „Stunde Null“, sagt Frau Heukenkamp und wendet sich damit frontal gegen alle Raddatze der Literaturgeschichte, die dieser Vorstellung vom Neuanfang des literarischen Lebens erfolgreich den Garaus gemacht hatten.

Der herrschaftsfreie Diskurs

Zwar zugegeben, die Autoren schrieben zum größten Teil weiter wie zuvor, aber: „Es genügt nicht ein Buch zu schreiben, um ein Autor zu sein.“ Dazu bedarf es noch des gesamten Feldes der literarischen Kommunikation mit seinen Institutionen, seinen Kanälen, seinen Subjekten. Dieses „virtuelle literarische Feld“ aber, so die These der Anthologie zur „Nachkriegsliteratur in Berlin“, strukturierte sich zwischen 1945 und 1949 völlig neu, vor allem weil sie nicht von den alten und politischen „Machtkämpfen und Konkurrenzen bestimmt“ war. Die literarische Öffentlichkeit Berlins als das Feld für den herrschaftsfreien Diskurs.

Die literarhistorische Materialfülle, die aufgeboten wird, um diese Perspektive deutlich zu machen, ist phänomenal. Mit Personenregister, mit ausführlichem biographischem Verzeichnis und mit drei synchronisierten Zeittafeln zu Politik, Wirtschaft, Soziales, Kulturpolitik, Presse, Rundfunk, Verlagswesen, Literatur, Theater, Musik, bildender Kunst, Film ist der Band ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk.

Das fehlende Sachregister ist zwar nicht zu ersetzen; in den zahlreichen historischen Monographien aber kommen die entstehenden Einrichtungen in aller Ausführlichkeit zur Darstellung. Als da wären die Institutionen der literarischen Selbstverwaltung: der Kulturbund, der Schutzverband Deutscher Autoren (SDA), der deutsche P.E.N., im Bereich des Theaters die Kammer der Kulturschaffenden oder als Event der erste Schriftstellerkongress im Oktober 1947.

Das betrifft zum zweiten die Re- und Umstruktierung der Berliner Verlagslandschaft. Mit einer ausführlichen Beschreibungen des „Aufbau“-Verlags, dem belletristischen Sprachrohr des Kulturbunds, mit Unternehmer-Porträts: der christliche Humanist Peter Suhrkamp, der agile Ernst Rowohlt mit seinen „rowohlts rotations romanen“. Die verschiedenen Kulturzeitschriften der Zeit werden porträtiert, Richters und Anderschs Ruf natürlich auch – aber vor allem die Berliner Blätter: Günther Birkenfelds Horizont oder Alfred Kantorowicz' Ost und West, der Ulenspiegel, der Start.

Aus der Darstellung der kulturpolitischen Debatten, die sich in ihnen abspielen, entwickeln sich politisch-moralische Schriftstellerporträts: Ricarda Huch, die großbürgerliche Anarchistin, der junge Stephan Hermlin, der zusammen mit seinem Mentor Hans Mayer aus dem Exil nach Berlin zurückkommt und sich als einer der wenigen Jungen am Schuld-Diskurs beteiligt.

Nachlesenswert auch die Debattenbeiträge von Wolfdietrich Schnurre, der sich vor allem mit Moralaposteln der selbsternannten „inneren Emigration“ anlegt (“... die Salatschnecken und bunte Steine bedichtete und diesen lieblichen Vorgang kunstgerecht vor den Konzentrationslagern und Kriegsschauplätzen aufgehängt hatte“) und gegen den Klassizismus der „Anciens“ polemisiert: „S-Bahnfahrt durch das zerbombte Berlin. Pappe in den Fensterrahmen. Mondkrater draußen. Blätterte in einem Stoß neuerschienener Lyrik-Publikationen. Sonette, Sonette. Nichts war passiert. Ein Schwan war ein Schwan geblieben, ein Krug ein Krug; ein Becher ,mundete‘ noch immer; die Quelle war ,munter‘ wie stets; die Dichter hatten alles ,getreulich bewahrt‘.“

Gerade in diesen fragmentarisiert durch das Buch streunenden Porträts wird die Methode einer historischen Feldanalyse kenntlich. Literaturgeschichtsschreibung, wie sie die Heukenkamp-Crew betreibt, ist auf eine fröhliche Weise positivistisch. In der Darstellung Johannes R. Bechers zum Beispiel. Weil man sich weigert, Bechers Aktivitäten der Jahre 1945–49 hermeneutisch mit seiner DDR- Biographie zu verschalten, entsteht das Bild eines selbstlosen Arbeiters am Wohl einer vergeistigten Kulturnation. Vor- und Nachgeschichte interessieren nicht. Die Nachkriegszeit kennt nur den Emigranten, der selbst suspekt Daheimgebliebene wie Frank Thiess oder Gerhart Hauptmann an den reich gedeckten Tisch des Kulturbundes bittet.

Wolfgang Harich als unermüdlicher Nörgler

Von Hauptmann gibt es dazu den lustigen Satz: „Es ist ein Trost/ der fest besteht/ daß beides, gut und schlimm,/ besteht“. Pech hat bei dieser Perspektivverengung auf die drei Nachkriegsjahre Wolfgang Harich. Ihm fällt die Rolle des Sündenbocks zu, der unermüdlich nörgelnd und geifernd die literarische Versöhnung sabotiert.

Die historiographische Entscheidung hingegen, sich um die große Politik nicht zu kümmern, hat zur Folge, daß die Besatzer zu dunklen Mächten gerinnen, die willkürlich in die internen Auseinandersetzungen des literarischen Feldes Berlin eingreifen. Das gehört zu den Problemen eines nicht- systemischen Feldbegriffs, der mit seinen Rändern nichts anzufangen weiß. Ein theoretischer Mangel, der bei der Innenbeschreibung des Feldes zu einer ungeheuren Materialansammlung führt. Unzählige Namen und Titel, angerissene, abgerissene Geschichten, verlorene Hoffnungen, fruchtlose Debatten. Sollte sich in diesem Wimmelbild der Berliner Nachkriegsliteratur wahrhaftig das Initial der „einen“ gesamtdeutschen Literaturgeschichte verbergen? Kaum vorstellbar. Und besser so.

„Unterm Notdach – Nachkriegsliteratur in Berlin 1945–49“. Herausgegeben von Ursula Heukenkamp. Erich Schmidt Verlag 1996. 580 Seiten, 68 Mark