Tanztheater: Tanz’ den Johann Wolfgang
Choreograf Jörg Mannes zeigt an der Staatsoper Hannover Goethes „Wahlverwandtschaften“ als zeitlose Seelenschau.
HANNOVER taz | Ein Paar guckt versonnen in die Ebene. Eduard und Charlotte sind seit Jahren harmonisch verheiratet, hier draußen auf dem Land haben sie ihr kleines Reich aufgebaut. Denken und fühlen gemeinsam, während sie die Natur mit Gartenanlagen gestalten wollen. Ihr Tanz ist voller Harmonie, aber wenn sie sich gemeinsam im Kreis umeinander bewegen, bleibt jede Spannung aus. Die Idylle ist nicht von Dauer.
Choreograf Jörg Mannes bringt mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ nach Choderlos de Laclos’ „Gefährliche Liebschaften“ und Gustave Flauberts „Madame Bovary“ erneut ein Stück Weltliteratur auf die Bühne der Staatsoper Hannover. Vier Menschen treffen in Goethes Roman auf einem Landgut zusammen. Eduard und Charlotte sind seit Jahren ein glückliches Ehepaar. Die junge Ottilie und der vitale Otto sind attraktiv und frei. Wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment lässt Goethe die gegenseitige Anziehung über das Korsett der Ehe triumphieren – und erzählt eine Vierecksgeschichte über Begierde, Liebe und moralische Zwänge.
Die Probleme, die da aufgeworfen und verhandelt werden, seien „dieselben, die uns auch heute betreffen“, findet Mannes. Wie gehen wir mit unserem Partner um? Was passiert, wenn es nicht mehr so gut funktioniert in der Beziehung? Wie löst man diese Situation? Ist sie überhaupt zu lösen? „Heutzutage würde man das Midlife-Crisis nennen“, sagt Mannes. Wenn man in das Alter kommt, in dem man denkt: War das jetzt schon alles oder kann ich hier noch etwas Neues erleben?
Mannes will mit Tanz zeigen, was zwischen den Zeilen steht. „Was wir im Tanz darstellen können, ist das emotionale Skelett, aber gleichzeitig auch die emotionale Basis des Romans“, erklärt er die Unterschiede zwischen den Medien Sprache und Tanztheater. In einem Roman sei es einfacher, verschiedene Realitätsebenen herzustellen. In den „Wahlverwandtschaften“ habe er Goethes Versuchsanordnung noch etwas weitergedreht: „An bestimmten Stellen haben wir vier Charlottes, vier Ottos, vier Ottilies und vier Eduards, um die verschiedenen Ebenen des Bewussten und Unbewussten sichtbar zu machen.“
Schlüsselszene dieser Seelenschau ist der Ehebruch im Ehebett. Während die Verheirateten sich in einem hellen, klaren Lichtstrahl bemühen, beieinander zu bleiben, treiben ihre Schatten ein erotisches Spiel. Charlotte und Otto, Ottilie und Eduard finden sich in sehnsüchtigen Zärtlichkeiten, während die Eheleute sich gleichzeitig nach der alten Harmonie suchend gegenüberstehen. Schon bei Goethe schlafen Eduard und Charlotte miteinander, während sie an Ottilie und Otto denken. In Mannes’ Fassung sind die Liebesspiele im Ehebruch allerdings so konkret, dass die Grenzen verschwimmen. Es ist nicht mehr ganz eindeutig, was hier real ist.
Gleichzeitig lenke er aber auch wie Goethe immer wieder vom Hauptgeschehen ab, sagt Mannes. Manchmal lasse Goethe den Leser ein bisschen auf den Fortgang der Geschichte warten und ziehe den Fokus breiter auf. „Das probiere ich auf der Bühne auch herzustellen“, sagt Mannes.
Das Bühnenbild von Mathias Fischer-Dieskau erinnert an einen ungebrochenen Naturzustand, mit weitem Ausblick und steinernem Steg – und auf der rechten Seite einem großen, stilisierten Felsen. Auf der linken Seite allerdings haben Charlotte und Eduard bereits Hand angelegt. Eine unfertige, eckige Wand steht da, halb bemalt, halb roh – hier haben zwei versucht, die Natur zu gestalten und zu unterwerfen.
Wie Insekten in einer Versuchsanordnung lässt Mannes die farblich leuchtend markierten Menschen aufeinander los. Den roten Ehemann Eduard, seine grüne Frau Charlotte, die leuchtend gelbe Ottilie und den blauen Otto. Bereits beim ersten Kennenlernen finden sich im Tanz immer wieder Konstellationen jenseits der tatsächlichen Verhältnisse. Dass in dieser Welt erotische Ausschweifungen verboten sind, zeigen drei riesige Tische, die aus dem Schnürboden herabschweben und die durcheinanderwuselnden Menschen fast erdrücken.
Der Tisch ist bei Mannes ein Ort, an dem man sich benimmt – und gleichzeitig versucht, aus seinen emotionalen Zwängen auszubrechen. Wie sich einer wirklich fühlt, verrät aber oft die Körpersprache, auch außerhalb des Balletts. Und Tanz sei eigentlich vergrößerte Körpersprache. „Mit unseren Körpern drücken wir vieles aus, was wir mit unserer normalen Sprache nicht ausdrücken“, sagt Mannes.
Im narrativen Tempo eines Kinofilms, begleitet vom Staatsorchester Hannover und der Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Sebastian Bach, gelingt an der Staatsoper so ein Abend von beeindruckender Qualität. Choreograf Mannes schafft ein schillerndes Psychogramm, dem die Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute gebannt zusehen. Obwohl das Setting und die Musik zeitlos und ohne moderne Bezüge daherkommen: Mit diesen Vorgängen auf der Bühne können offenbar auch die Paare im Publikum etwas anfangen: Sie beklatschen auch ihre eigenen verborgenen Leidenschaften; die eigenen unsichtbaren Schatten.
ALEXANDER KOHLMANN
nächste Aufführungen: heute, 19.30 Uhr; 9. März, 18.30 Uhr; 30. März, 16 Uhr
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