Tanzikone Lucinda Childs in Berlin: Sie gleiten durch Zeit und Raum
Lucinda Childs ist eine Ikone des Postmodern Dance, der ein eigenes Zeitgefühl schafft. Nun war die New Yorkerin im Berliner Radialsystem zu erleben.

Flüchtig ist der Tanz, seine Geschichte fragil. Damit Choreografien weiterleben, studieren im besten Fall die Choreograf:innen selbst, oder Tänzer:innen einer Aufführung, die Stücke mit einer nächsten Generation ein. In Berlin verfolgen die Choreografinnen Sasha Waltz und Constanza Macras diese Strategie: Beide griffen in diesem Frühjahr Stücke wieder auf, mit denen sie in den 1990ern dem Tanztheater eine neue Popularität verschafften. Ende letzten Jahres erinnerte das Tanztheater Wuppertal mit „Kontakthof – Echoes of ’78“ an eine fast fünfzig Jahre alte Choreografie und kam mit denen, die von der Originalbesetzung noch lebten, auf die Bühne. Das war nicht nur im Pina-Bausch-Kosmos ein besonderes Erlebnis.
Dennoch sind solche Glücksfälle die Ausnahmen. Die prekären Produktionsbedingungen in den Compagnien des zeitgenössischen Tanzes lassen sie oft gar nicht lange genug existieren, damit eine solche Weitergabe der Werke möglich wäre. Das ist als Problem auch den tanzfördernden Institutionen bewusst. Die Berliner Festspiele luden so letztes Jahr wiederaufgeführte Stücke von Trisha Brown und Lucinda Childs ein, Protagonistinnen einer Erneuerung des Tanzes in den 1970er Jahren in New York.
Am Radialsystem Berlin konnte man jetzt vier Tage lang ein weiteres Kapitel lebendiger Tanzgeschichte erleben. Das Ensemble Dance On brachte einen Abend mit drei kurzen Stücken, die Lucinda Childs in den 1970er Jahren entwickelt hatte, heraus, gekrönt von einer Uraufführung: „Stein“. In ihr kam die legendäre Choreografin, inzwischen über 80 Jahre alt, selbst auf die Bühne, zusammen mit der Tänzerin Miki Orihara, die, 1960 geboren und lange Tänzerin bei Martha Graham, selbst tief in den Quellen des modernen und postmodernen Tanzes verwurzelt ist.
Es gibt Rebellionen auf beiden Seiten
Die Bühne war geteilt durch einen Gazevorhang mit projizierten Bildern von Wasser, Meer und Ufersaum. Davor sah man Miki Orihara, mit teils sehr gedehnten, tastenden Bewegungen, teils entschiedenen Gesten. Dahinter tauchte, fast wie ein Geist, Lucinda Childs auf, kopierte manchmal Oriharas Tanz, schien sich manchmal aber auch darüber lustig zu machen. Einzelne Sätze aus dem Text von Gertrude Stein, von Lucinda Childs gesprochen und größtenteils aus dem Off zu hören, werden zum Kommentar der Situation. Stein spielt mit der Sprache, Situationen werden aufgerufen und gleich wieder verlassen, ästhetische Fragen werden einen halben Gedanken lang verfolgt. Childs und Orihara könnten Zwillinge sein, über die der Text nachdenkt, oder Spiegelungen, die Positionen in Vergangenheit und Gegenwart besetzen.
Ihr Verhältnis ist aber nicht nur harmonisch, es gibt Rebellionen auf beiden Seiten. Vielleicht auch, weil es für niemanden eindeutig sein kann, zu erzählen, was und wer sie einmal war. „A play means more. A play means more“, diesen Satz aus Gertrude Steins Text schleudert Lucinda Childs am Ende wiederholt heraus, zieht damit in langer Bahn über die Bühne. Strafend klingt das, aber auch nach der Karikatur einer Kritik, doch bleibt offen, was hier zwischen den Tänzerinnen verhandelt wird.
Das Wasser, das im Videobild zwischen ihnen leise Wellen schlägt, und das tröpfelnde Sounddesign – beides von dem Videokünstler und Komponisten Hans Peter Kuhn –, tragen zum Zerfließen der bedeutungsgebenden Schichten bei. Nichts lässt sich festhalten.
Ty Boomershine, 1968 geboren, war Assistent von Lucinda Childs und ist heute künstlerischer Leiter des Dance On Ensembles. Das Besondere der Compagnie ist, mit älteren Tänzer:innen zu arbeiten, die neben großem Können auch langjährige Erfahrung einbringen. Immer wieder entwickeln auch junge Choreografen Stücke für Dance On, wie das fantastische „Mellowing“, das Christos Papadopoulos 2023 mit ihnen zur Aufführung brachte. Ty Boomershine hat mit Dance On aber auch frühere Stücke von Lucinda Childs einstudiert, die sie seit vier Jahren im Repertoire haben. Auch jetzt wird die Uraufführung „Stein“ begleitet von drei kurzen, sehr präzisen Stücken, ohne Musik, die nur mit dem Rhythmus der Schritte einen großen Sog entfalten.
Aber diesmal ist Lucinda Childs zum ersten Mal selbst in das Radialsystem gekommen. Zwei Tage vor der Uraufführung kann ich sie in einem Hotel treffen. Sie erzählt, dass sie ihre Stücke von Dance On getanzt das erste Mal in Barcelona gesehen habe. Sie war begeistert von der Aufführung und davon, wie hingerissen das Publikum den Tänzen folgte. Die Lässigkeit und Eleganz der Bewegungen, die auf dem Gehen basieren, mit kleinen Wendungen, die sich bald zu einem komplexen Ineinander entfalten, suggerieren eine große Leichtigkeit. Dabei werden doch auch große Strecken zurückgelegt, es ist auch eine sportliche Leistung.
Loslassen und ausklingen
„Stein“ ist anders als die frühen Stücke, nicht mehr das Fließen der Energie steht im Vordergrund, sondern ein Loslassen und Ausklingen. Das Duo entstand in diesem Jahr gewissermaßen on the road. Zuerst hat Lucinda Childs mit Miki Orihara im Juni in Lyon zusammengearbeitet, dann trafen sie für einen Workshop in Le Havre zusammen. Lucinda Childs, die vor Kurzem 85 Jahre alt wurde, erzählt, dass sie seit Mai nicht mehr zu Hause in New York war. Sie reise mit einem großen Koffer. In Europa zu arbeiten, war schon am Beginn ihrer Karriere wichtig, als sie 1976 mit Philip Glass und Robert Wilson die Oper „Einstein on the Beach“ herausbrachte, auf dem Festival von Avignon. Da war sie schon eine Protagonistin des postmodernen Tanzes, der einerseits mit einem minimalistischen Bewegungsmaterial auszukommen scheint, damit andererseits aber diffizile Strukturen baut.
Sie ist stolz darauf, auch heute noch eine eigene, unabhängige Compagnie zu haben und ihre Stücke immer wieder an jüngere Generationen von Tänzer:innen zu übergeben. So wie in den Stücken selbst die Bewegungsimpulse von einem zum anderen weitergegeben werden. Förderung erfahren sie in den USA kaum, und die Situation wird immer schlechter. Wichtig waren immer die Reisen über den Atlantik und die Gastspiele in Europa.
Warum kann es Zuschauer:innen so glücklich machen, die Tänze von Lucinda Childs zu sehen? Sie transportieren etwas Utopisches und Rauschhaftes, sie vertreiben das Grübeln und erzeugen einen Raum, in dem es nur auf das Hier und Jetzt ankommt. Wenn die Tänzer:innen in Drehungen und Wendungen die Linien ihrer Gänge miteinander verflechten und immer komplexere Muster entstehen lassen, dann wirkt das auch wie ein sich selbst regulierendes soziales Miteinander, das ohne Hierarchien und Führung auskommt und in dem alles im Austausch miteinander entsteht. Als hafte diesen Choreografien noch etwas vom Geist einer Zeit an, die Klassenschranken in naher Zukunft überwunden glaubte und dies im Ästhetischen ausprobierte.
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