"Tangerine"- Film über Frauen in Tanger: Auf der Suche nach der Musik
Irene von Albertis aktueller Spielfilm "Tangerine" rückt den schwierigen Lebensumständen der Marokkanerinnen noch einmal ein ganzes, erhellendes Stück näher.
Mit einer langen Taxifahrt in die Stadt Tanger, vorbei an öden Mietskasernen und staubigen Brachen, beginnt das marokkanische Abenteuer, das Pia (Nora von Waldstätten) und die drei Jungs ihrer Band in die alte nordafrikanische Stadt führt. Pias grüne Augen schauen mit blasierter Kühle auf die Szenerie, die alles andere als ein Eintauchen in den Mythos orientalischer Sinnlichkeit verspricht. Sorgsam vermeidet die ruhige Handkamera von Birgit Möller jeden Anschein von exotischer Pracht, denn es geht um Milieus, die sich dem Postkartenblick entziehen.
Die Band will im Marokko-Urlaub legendäre Jajouka- und Jilala-Musiker ausfindig machen, die schon die Rolling Stones inspiriert haben sollen. Man wartet auf die versprochenen Kontakte und feiert die Nächte in westlich geprägten Clubs durch. Tom, der Kopf der Band, gibt die schnöselige Tonlage an. Alexander Scheer spielt den eckigen, extrovertierten Kindmann, unentschieden gegenüber Pia, offen für Flirts. Tanger, wird bald klar, ist die letzte Bewährung für das eigentlich schon getrennte Paar.
In diesem Zustand zwischen Ablösung und Liebe treffen die Urlauber auf Amira (Sabrina Ouazani), die am liebsten in der Hauptstadt Rabat als Bauchtänzerin im Fernsehen Karriere machen würde, vorerst jedoch in den einheimischen Clubs Blicke auf sich zieht. Pia ruft Amira an den Tisch und stellt so die erste Verbindung her, aus der eine vorsichtige Freundschaft entsteht.
Pias Distanz zu ihrem Freund bringt Amira dazu, den kopflosen Tom mit Versprechungen für sich einzunehmen, sie will ihm Musikerkontakte verschaffen, zeigt ihm die Stadt, verführt ihn mit wenigen taktischen Zügen. Pia dagegen entdeckt in der Dreieckskonstellation plötzlich ihre Eifersucht und sieht in dem klaren Kalkül Amiras Verrat.
Was die Urlauber nicht wissen, ist in der Wohngemeinschaft Amiras ein offenes Thema. Die Ausreißerin hat keine Lust, sich an einen alten Mann verheiraten zu lassen oder Dienstmädchen zu werden. Bessere Aussichten hat sie ohne einen Schulabschluss kaum, es sei denn, die Bauchtanzkarriere gelänge oder aber Tom nähme sie nach Deutschland mit. Die Eltern des Mädchens arbeiten in Spanien, der Onkel erzieht es mit rabiaten Mitteln. Zuflucht bietet die Wohnung zweier Frauen, die als illegale Prostituierte arbeiten. Nachts suchen sie im Glitzerfummel Freier in denselben Clubs, die auch Pia und ihre Freunde besuchen, tags machen sie unter dem Kaftan verborgen ihre Behördengänge oder bringen das Kind der einen in die Schule.
Irene von Albertis Drehbuch basiert auf Gesprächen mit marokkanischen Frauen, die in der Grauzone zwischen gesellschaftlicher Ächtung und Polizeiwillkür arbeiten. Das Huren-Stigma ist zumeist ihre einzige Alternative, wenn sie aus den traditionalistischen patriarchalen Eheverhältnissen ausbrechen. Die klarsichtigen Lästereien dieser Freundinnen, vor allem ihr gnadenloses Hexengelächter, gehören zu den schönsten Passagen von "Tangerine", die Härte dieser Frauenleben spiegelt sich darin ebenso wider wie der phantastische Elan, mit dem sie sich darüber lustig machen und Tom als Wunderprinzen zurechtfabulieren. Just jedoch in dem Moment, in dem die Ausreißerin tatsächlich in Not gerät und Pias Hilfe braucht, erscheint den coolen deutschen Beziehungsurlaubern die Intrige "zu kompliziert" und man zieht sich zurück.
Den Riss zwischen den europäischen und nordafrikanischen Kulturen beschreibt Irene von Alberti unterhaltsam und mit viel Milieukenntnis. Nach ihrer Paul-Bowles-Adaption "Halbmond" (1995, zusammen mit Frieder Schlaich gedreht) und dem Dokumentarfilm "Bouchra" über eine junge Schneiderin ist "Tangerine" der dritte Film über Tanger. Mit jedem rückt sie den tabuisierten Lebensverhältnissen der Frauen ein Stück näher.
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