■ Taiwans Unabhängigkeitsstreben ist so verständlich wie riskant: Modus vivendi statt Casus belli
Taiwans Präsident Lee Tenghui ist 76 Jahre alt – aber senil ist er noch nicht. Wenn er sagt, die Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik seien „Beziehungen auf einer zwischenstaatlichen Ebene, zumindest ist es ein besonderes zwischenstaatliches Verhältnis“, so ist das wohl kalkuliert – gerade weil der Präsident damit die bisherige Sprachregelung, die nur „verschiedene politische Einheiten“ kannte, verläßt.
Die Ironie ist, daß Lee eigentlich nur ausgesprochen hat, was seit Jahren Fakt ist. China und Taiwan haben unterschiedliche politische Systeme, eigene Regierungen, Währungen, Armeen. Trotzdem wird Taiwan nur von einer kleinen Minderheit von 28 Staaten anerkannt, darunter kein Land von größerem wirtschaftlichem oder politischem Gewicht. Für die Taiwaner ist dies um so bitterer, als sich ihr Land erfolgreich entwickelte. Die Republik China, wie Taiwan offiziell heißt, ist heute nicht nur eine Demokratie, sondern auch eine blühende Volkswirtschaft.
Seine Erfolge erreichte das Land ohne internationale Anerkennung – aber mit einer pragmatischen Politik. Die bisherige Sprachregelung jetzt der Praxis anzupassen, wie Lee es tat, ist verständlich – aber es gefährdet den bisherigen Modus vivendi.
Die chinesische Führung hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie eine formale Unabhängigkeit Taiwans nicht hinnehmen wird. Peking strebt die Vereinigung nach dem Hongkonger Modell an, ist aber auch zum Krieg um Taiwan bereit. Entsprechende Warnungen wurden jetzt wiederholt und um die Neutronenbomben-Drohung ergänzt. Für Pekings ideologisch bankrotte Kommunisten ist der Nationalismus die Ersatzideologie. Um so empörter reagieren sie, wenn Chinas Einheit in Frage gestellt wird.
Zwar mögen diese Drohungen Taiwans Präsidenten in der Innenpolitik helfen und die USA wieder zu einer stärkeren Unterstützung Taiwans zwingen. Aber aus der Taiwan-Frage einen Casus belli zu machen hilft Taiwan nicht – vielmehr heißt das, Wasser auf die Mühlen der Hardliner in Peking zu gießen. Die sind seit dem Kosovo-Krieg nicht nur im Aufwind, sondern haben die dortige Nato-Intervention vor allem deshalb verurteilt, weil sie einen Präzedenzfall befürchten – um Taiwan oder Tibet etwa.
Die Taiwan-Frage wird sich erst nach politischen Reformen in der Volksrepublik lösen lassen und sich dann auch für Taiwan noch einmal neu stellen. Bis dahin sollte der Pragmatismus fortgesetzt werden. Sven Hansen
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