Tagebuch aus der Ukraine und dem Exil: Eine Woche Krieg
Russland greift die Ukraine an. Menschen fliehen, aufs Land oder ins Exil. Andere bleiben und kämpfen. Nichts ist mehr, wie es war. Fünf Tagebücher
S elim H. ist 17 Jahre alt und studierte vor dem Krieg Automatisierungstechnik in Kiew. Dort lebt er auch mit seiner Familie. Eigentlich kommt er von der Krim und ist Krimtatar. 2014 musste er wegen der Annexion der Halbinsel durch Russland mit seinen drei jüngeren Geschwistern, seiner Mutter, seinem Stiefvater und seiner Großmutter von dort fliehen.
Nachdem er am Donnerstag der vergangenen Woche, am 24. Februar, von Detonationen geweckt wurde, bereitete sich die Familie auf eine Evakuierung vor. Sie kochte Essen vor, packte Kleidung ein und stellte eine Notfallliste zusammen. Tags darauf beschloss sie jedoch zu bleiben und sich im Keller des Einfamilienhauses zu verstecken. Als Selim H. mit seinem Tagebuch beginnt, sitzen sie alle bereits seit zwei Tagen im Keller.
Samstag, 22.32 Uhr
Wir halten uns weiterhin im Keller auf, nur Oma ist stur und weigert sich nach wie vor, runterzukommen. Ich zweifle auch etwas, ob der Keller als Schutzraum sicher genug ist. Aber wir bereiten uns so weit es geht vor, basteln Molotowcocktails und Mutter hat sogar eine alte Armbrust hervorgeholt.
Die Armbrust konnten wir damals bei unserer Flucht von der Krim noch mitnehmen. Gemeinsam mit meinem jüngeren Bruder stellt unsere Mutter auf einem 3D-Drucker Pfeilspitzen für die Bolzen her.
Gestern noch verfolgten wir den ganzen Tag die Nachrichten und ich versuchte, Fake News zu widerlegen und Nachrichten von westlichen Sendern an Bekannte in Russland weiterzuleiten.
Heute sind die Nachrichten inspirierend. Selbst auf den russischen Kanälen, die eigentlich Propaganda verbreiten, sehen wir, wie unsere Streitkräfte den russischen Soldaten ihre Kriegsmaschinen abnehmen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Für mich besteht kaum ein Zweifel, dass dieser Krieg für Russland böse enden wird. Die Frage ist nur, wann und zu welchem Preis. Der Vater meines Freundes wurde in diesem Krieg getötet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich für ihn anfühlen muss, jemanden auf diese Weise zu verlieren. Fast stündlich schickt mir mein Telefon neue Benachrichtigungen, die vor Luftangriffen warnen. Ich kann nur beten, dass unsere Familie nicht noch einmal fliehen muss …
Sonntag, 17.52 Uhr
Den ganzen Tag war etwas zu tun. Es mussten weitere Vorbereitungen getroffen werden, denn wir werden hier wahrscheinlich eine ganze Weile im Keller verbringen. Wir haben den Keller freigeräumt und Matratzen nach unten gebracht. In Vasilki, östlich von Kiew, wo meine Großeltern väterlicherseits leben, ist ein Öldepot durch russisches Bombardement in Brand geraten.
Ich hoffe so sehr, dass wir nicht wieder fliehen müssen. Ich erinnere mich daran, wie die Krim annektiert wurde, als ich zehn Jahre alt war. Mitten in der Nacht wurde ich wach wegen der Panik meiner Eltern. Wir stiegen ins Auto, fuhren los, ohne Ziel. Meine Geschwister und ich rollten uns auf der Rückbank zusammen und versuchten zu schlafen. Meine jüngste Schwester war kein Jahr alt und wurde noch gestillt.
Wir wollen unser Haus nicht wieder wegen russischer Angriffe verlassen. Äxte, Schaufeln, Molotowcocktails, eine Armbrust und vielleicht auch ein paar zerbrochene Spiegel – alles wird von Nutzen sein.
Molotowcocktails sind recht einfach herzustellen – natürlich nicht die effektive Version. Wir haben einfach etwas Öl mit Benzin gemischt, eine Weinflasche etwa zur Hälfte gefüllt und einen Lappen in die Flüssigkeit gesteckt.
Wir kochen Wasser ab und füllen es in Flaschen, um es aufzubewahren. Unsere Badewanne haben wir auch mit Wasser gefüllt, damit wir noch etwas zu trinken haben und uns waschen können, falls die städtischen Leitungen getroffen werden.
Die Lebensmittel, die wir eingelagert haben, rationieren wir – schließlich weiß niemand, wie lange es dauern wird.
Montag, 21.18 Uhr
Ohne Fenster und Tageslicht aufzuwachen, ist ungewöhnlich. Wir sind zuletzt nicht mal mehr auf die Straße gegangen – es wäre auch zu gefährlich. Wir sind sehr froh, dass wir in Sicherheit sind und ein Haus gemietet zu haben. Es ist klein und wenn alle Lichter aus sind, ist es von draußen kaum zu sehen. Außerdem sind wir weiter weg vom Geschehen – die Luftschutzsirenen erreichen uns nicht, die Raketen hören wir aber.
Auch wenn gerade keine neuen Anschläge gemeldet werden, ist da dieses Gefühl der Hilflosigkeit und das Gefühl, nicht genug für unser Land zu tun. Ich weiß, dass ich in der Landesverteidigung nutzlos bin. Ich weiß nicht, wie man eine Waffe benutzt und ich bin ein schwacher Mensch. Ich bin feige und habe Angst vor dem Tod.
Ich habe versucht, Bekannte in Russland über den Krieg zu informiere, ich habe auch Spenden für die Armee gesammelt. Und trotzdem fühlt sich das nicht genug an. Aber es gibt immer Hoffnung. Ich weiß, dass dieser Krieg enden wird. Dass der wahnsinnige, paranoide und illegitime Herrscher unseres östlichen Nachbarn wahrscheinlich sterben oder von seiner eigenen korrupten Elite gestürzt werden wird. Höchstwahrscheinlich werde ich sogar eines Tages endlich die Sprache meines krimtatarischen Volkes so gut lernen, wie ich Ukrainisch kann.
Ich bin immer noch erstaunt, wie schnell sich alles entwickelt hat. In nur wenigen Tagen sind wir Ukrainer, die normalerweise durch politische Streitigkeiten so gespalten sind, vereint und unser Präsident scheinbar in Stunden gereift. Manchmal tun mir sogar die russischen Soldaten und das russische Volk leid, die als Marionetten benutzt werden.
Dienstag, 20.02 Uhr
Alles andere als gut. Ich dachte, dass die Ruhe und die Sicherheit des Kellers gut für das Gemüt wären. Aber diese Annahme war falsch – es herrscht ein ständiger Druck durch potenzielle Bombardierungen und eine große Ungewissheit.
Ich dachte, wir wären vorher durch die Coronamaßnahmen isoliert gewesen. Aber jetzt erst recht. Fast die gesamte Familie sitzt in einem kleinen Zimmer fest, das zur Hälfte mit Matratzen belegt ist und in dem nur das jüngste Kind aufrecht stehen kann. Wir haben aber eine Bewältigungsstrategie für diese Situation gefunden: Wir teilen uns Arbeit in jedem Bereich zu: kochen, abwaschen, aufräumen, lernen – alles, was den Geist ablenkt.
Eine Freundin von mir ist als Köchin zu den territorialen Verteidigungskräften gegangen. Seither hat sie sich nicht mehr gemeldet. Eine andere hat ihren Vater verloren, der der territorialen Verteidigung angehörte. Ein anderer Freund, der von der Armee eingezogen wurde, wartet ständig an einem Stützpunkt und wünscht sich, in den Kampf zu ziehen. Das ständige Ausharren belastet ihn.
Auch die, die weggelaufen sind, sehen sich mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Schuld konfrontiert, egal, was sie tun. Trotzdem geht das Leben weiter. Meine Geschwister lernen für Prüfungen, die stattfinden, wenn der Krieg endet. Ich versuche, meine Freunde auf dem Laufenden zu halten. Die ganze Zeit sehe ich Bilder der zerstörten, ausgebrannten Städte und höre die fernen Explosionen. Ich denke darüber nach, wie es weitergehen wird, wenn das alles vorbei ist. Wie wird die Ukraine wiederaufgebaut, wie viele Menschen werden unter den Folgen dieses Krieges leiden und wie wird sich unser Leben verändern?
Mittwoch, 13.23 Uhr
Ich weiß nicht, worüber ich schreiben kann, wirklich. Das Gute ist, dass dieser Tag für uns relativ ruhig war. Wir hatten mehr Routine, wir haben Essen gekocht und sogar ein paar Filme auf dem Computer angeschaut.
Ich habe gehört, wie unsere Eltern darüber redeten, ob sie unseren Vermieter darum bitten sollen, das Haus für uns zu reservieren, falls wir doch fliehen müssen. Das beunruhigt mich.
Ich will nicht weg. Ich will nicht noch einmal von vorne anfangen, irgendwo weit weg von zu Hause. Wann wird das enden?
Donnerstag, 17.32 Uhr
Der Tag ist ruhig. Ich glaube nicht, dass wir flüchten. Obwohl weiter abgewogen wird. Aber wie mit so vielen Leuten? Und mit Soldaten, die auf zivile Transporte schießen. Und, ja, … mit jedem Tag stimmen die Nachrichten hoffnungsvoller.
Also ich glaube nicht, dass wir gehen. Wir bleiben im Keller und wenn die Feuer verglommen sind, bauen wir das Land wieder auf … Ich werde zur Universität gehen, Programmierer werden. Aber egal was wir tun, wir werden es in einer vereinten Ukraine tun, mit europäischen Nachbarn … Und für jetzt? Jetzt warten wir.
Freitag, 5.35 Uhr
Nicht aufwachen … Was? War das eine Explosion in der Ferne? Nein, nein … wie spät? Ah 6 Uhr.
Was? Was sagen die Nachrichten? Was zur Hölle? Die Wodkasäufer haben ein Feuer in einem Atomkraftwerk ausgelöst? Warum?
Okay, unsere Flüchtlinge werden in Europa leben und arbeiten, das … Das ist gut zu wissen.
Aber diese … diese Monster, sind wahnsinnig. Warum passiert das? Wann endet dieser Albtraum?
Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer
Ljuba Danylenko – „Wir wollen keine Flüchtlinge sein“
Ljuba Danylenko, 46, Dolmetscherin und Historikerin, ist am 22. Februar mit ihrer Freundin Tanja Pastuschenko in die ukrainischen Karpaten geflohen. Danylenko hat zwei Kinder. Die 22-jährige Tochter ist noch in Kiew, der fünfjährige Sohn ist bei ihr. Die Männer haben sich zum Militär gemeldet.
Vor dem Krieg
Schon vor Wochen wurde es immer gefährlicher. Trotzdem, bis zuletzt glaubten wir: So weit kommt es nicht. Erst nach der Anerkennung der separatistischen Gebiete und als der Einsatz von russischen Truppen im Ausland erlaubt wurde, schwand die Hoffnung.
Meine Freundin Tanja war um mich und Ostap, meinen Sohn, besorgt und zwang mich am Dienstagabend, den 22. Februar, Kiew zu verlassen. Sie hatte Zugtickets für die Karpaten. Unsere Männer verabschiedeten uns am Bahnhof. Wir hatten nur das Nötigste dabei.
Die Männer meldeten sich dann sofort beim Militär. Mein Mann war schon 2014 im Donbass im Einsatz, er weiß, was zu tun ist. Tanjas Mann ist Philosophieprofessor und meldete sich beim Zivilschutz.
Den ersten Tag in den Karpaten haben wir noch schlittenfahrend verbracht. Aber im Morgengrauen des 24. Februar wurde ich vom Anruf meines Mannes geweckt: Der Krieg hat begonnen. Kiew wird beschossen. Andere Regionen auch.
Tag 1
Hunderte Meldungen, Telefonate. Mit zitternden Händen kaufe ich eine der letzten Fahrkarten in die Westukraine für meine 22-jährige Tochter; sie ist in Kiew. Sie schafft es, kommt raus, mit zwei Katzen, braucht einen halben Tag vom linken auf das rechte Ufer des Dnjepr. Kaum Benzin in der Stadt. Staus, Schüsse, Luftalarm.
In Kiew bleiben so viele Freunde, Verwandte. Meine Schwester mit ihrem behinderten Sohn. Unsere Zeitzeugin, die 91-jährige Nadeschda. Auch unsere 96-jährige Freundin und Auschwitz-Überlebende Anastasia Gulej, die so viel für den Frieden getan hat.
Ich bekomme Angebote, in Deutschland unterzukommen, aber ich will nach Hause, wir wollen keine Flüchtlinge sein.
Schlafen können wir nicht. Die Nachrichten von Erfolgen unserer Armee, von Heldentaten der Bevölkerung machen uns Mut. Die Meldungen über Verluste erfüllen uns mit Trauer. Und da ist Stolz auf unser Volk, das zusammenhält, trotz verschiedener innenpolitischer Ansichten und Sprachen. Wir sind das Volk. Slawa Ukraini!
Tag 2
Ich kann nicht denken, nichts schreiben.
Tag 3
Bruchstückhaftes Schlafen und höchste Anspannung, ob Kiew noch unser ist.
Aufatmen: Kiew steht. Ich denke an meine Mutter Heimat. Im wörtlichen Sinne. Aber auch an die Gedenkstättenstatue, das höchste Monument Kiews, das am Dniprohügel steht. Das ist mir schon immer aufgefallen, dass die Frau mit Schwert und Schild gegen Osten gerichtet ist. Nicht gegen Westen, obwohl sie dem Zweiten Weltkrieg gedenkt. Tanja und ich haben im dazugehörenden Museum gearbeitet.
Die 96-jährige Anastasia geht nicht ans Telefon. Sie wohnt direkt neben dem Flughafen – einer Zielscheibe. Während der Covidquarantäne hat sie ein Denkmal eingeweiht, das an die Opfer des ersten Bombenangriffs im Zweiten Weltkrieg am 22. Juni 1941 erinnern soll. Ich will kein zweites Denkmal dort sehen. Später erfahren wir, dass unsere betagte Freundin die Nacht im Keller verbrachte. Aber sie lebt.
Meine Tochter ist bei Verwandten angekommen. Sie lebt. Die letzte Chance, Kiew vom linken Ufer aus zu verlassen, war gestern. Die Metro fährt nicht mehr; Brücken sind gesperrt. Meine arme Schwester und ihr Sohn sind dort.
Die 91-jährige Nadeschda meldet sich per Telegram. Sie, ihr blinder Mann, ihre Töchter und ein zweimonatiges Enkelchen sind in Kiew in einem Hochhaus. Sie ist frohen Mutes und hofft auf den baldigen Sieg. Sie lebt.
Kurze Telefongespräche mit unseren Männern, sie sprechen nicht viel. Alles gut. Alle da. Alle kampfbereit.
Viele Proteste in Europa. Endlich Swift-Ausschluss. Auch Waffenlieferungen. Die Freude überwiegt die Enttäuschung. Warum nicht früher? Was man nicht gleich zahlt, muss man später tausendfach zurückzahlen.
Hier in den Bergen kommen immer mehr erschöpfte, verängstigte Leute an. Kleinkinder und Säuglinge dabei. Aber sie leben.
In den Geschäften sind die Regale halb leer. Kein Brot. Wir zahlen mit Karte.
Menschen helfen einander, organisieren sich, sind achtsam – auch wegen Kollaborateuren. Ein alter Mann fuchtelt mit der Krücke gegen russischen Panzer: „Geht weg.“
Schlechte Nachrichten. Ukrainische Städte werden erobert. Cherson fiel. Ochtyrka zählt viele Opfer und Schäden und kämpft weiter. Iwankiw nördlich von Kiew wird als eine der ersten eingenommen. Das Heimatmuseum, in dem wir eine Ausstellung zur NS-Besatzung machten, ist zerstört. Sogar Lwiw und Iwano-Frankiwsk erleben Luftalarm.
Tag 4
Wir grüßen uns nicht mehr mit Guten Morgen. Das bringt man nicht über die Lippen. Das Erste, was wir im Morgengrauen dann tun: Die Nachrichten checken, rausfinden, ob unser geliebtes Kiew noch steht. Ja, meint Tanja, von einer Niederlage habe sie nichts gelesen.
Meine Schwester schreibt. Die Nacht saßen sie in einem Schulkeller, es sei zwar kalt, aber die Leute helfen sich gegenseitig. An Lebensmitteln hätten sie und ihr Sohn nur noch ein Stück Brot und zwei Bananen. Es dröhnt von überall her. Sie tröstet mich, dass es Wasser genug gebe, dass sie lieber hungern werde, als durch Bomben zu sterben.
Villenvororte bei Kiew sehen kaputt aus. Die Panzerkolonne „V“, die Richtung Kiew vordrang, wurde zerschlagen. Man sagt, es waren tschetschenische Truppen. Schauderhafte Bilder.
Tanja fragt, wer soll das alles neu aufbauen? Ich sage, nach dem Zweiten Weltkrieg war auch alles zerstört. Deutschland konnte sich schnell mit Hilfe von außen erholen, wir werden auch Hilfe bekommen.
Heute ist Sonntag. Wir gehen zum Gottesdienst. Die Kirche ist voll. Der Priester sagt: „Nicht verfluchen, sondern beten um Gottesschutz.“ Gottesschutz für den Kampf, meint er, denn er zitiert auch unseren Nationaldichter Taras Schewtschenko: „Kämpft und ihr werdet siegen! Gott wird euch helfen!“ Unser Taras. Deine Worte.
Anastasia Gulej, Auschwitzüberlebende aus Kiew
Bislang habe ich keine Nachrichten aus Russland. Obwohl ich dort Verwandte und Kollegen habe.
Unsere Männer okay, soweit es geht.
Und auch Nachrichten von unserer Anastasia: „Ich habe Hitler überlebt, Stalin überlebt und dieses Arschloch Putin werde ich auch überleben!“ Sie hat vor nichts mehr Angst, lange nicht mehr. Mit ihren 96 Jahren und den zwei schlimmsten KZ-Lagern, Auschwitz und Bergen-Belsen, die sie erlebte. Brot habe sie keins, aber Brei genug.
Auf und ab die Stimmung. Gibt es noch Corona? Japan schließt sich den Sanktionen an. Die Städte Melitopol und Nowa Kachowka sind von den Besatzern erobert. Schwere Kämpfe in Charkiw. Der Flughafen in Schytomyr unter Beschuss. In der Westukraine Luftalarm. Es hört sich nicht gut an.
Tausende melden sich für den Zivilschutz, Hunderttausend als Kämpfer. Viele Freiwillige werden gar nicht erfasst. Die Ukraine steht für die Demokratie und Freiheit Europas ein.
Unsere Militärverluste werden verschwiegen, wir können sie nur erahnen.
Und sag, kommt jetzt Gefahr auch aus Belarus? Noch nie in der Geschichte haben unsere Völker sich bekriegt. Alles völlig verdreht.
Eine riesige Demo in Berlin. Freunde schicken Fotos. Die historische Rede von Scholz ist so klar und deutlich; nun ist Deutschland seine historische Verantwortung gegenüber Russland los.
Wir überlegen, weiterzuziehen. Wie schön ist unsere Ukraine. So ein riesiges Land erobern? Sehr unklug. Widerstand wird es immer geben. Eindringlinge, die hier in die Karpaten einfallen, müssen mit heftigem Widerstand rechnen. Selbst das Flüsslein heißt Opir – Widerstand. Die Erinnerungen an den Sowjetterror sind noch wach.
Ostap malt und will sein Bild unbedingt zu Hause an die Wand hängen. Ja, sage ich. Für ihn steht das Wort „Kiew“ für Zuhause. Er versteht noch nicht, dass die ganze Dreimillionenstadt so heißt.
Tag 5
Der Schlaf endet um 3 Uhr morgens. Draußen schneit es. Herrliche Ausblicke auf weiße Berge.
Nachrichten checken. Antworten, weiterleiten, sich beruhigen, sich sorgen. Kaffee tut gut. Ostap schaut beim Frühstück aus dem Fenster. Er fragt, ob in den Karpaten immer Winter ist?
Heute dreht sich alles um Charkiw. Mitten am Tage erlebt die große ukrainische Stadt im Osten ungeheuren Raketenbeschuss, schauderhafte Bilder, wo die Toten auf der Straße liegen. Solche Bilder waren in Charkiw in der Hungerszeit 1933 zu sehen.
Nach dem Schneeballwerfen wird Ostap schlapp. Fieber 39 Grad. Als ich Zeitzeugenberichte aus der Zeit der Verschleppung zur Zwangsarbeit höre, habe ich mich oft gefragt, wie Frauen ihre Kinder damals geheilt und verpflegt haben. Hier hilft mir eine Nachbarin mit zwei Kindern.
Heute beginnen die Sanktionen gegen Russland dort zu wirken. Schadenfreude? Hoffnung verfestigt sich und geht in den festen Glauben über, der fürchterlichen Vernichtung der Ukraine ein baldiges Ende zu setzen.
Dann der Anruf meines Mannes; er versetzt mich wieder in Unruhe. Morgen haben sie einen Einsatz. Er wird sich melden.
Tag 6
Schreckliche Bilder aus Charkiw. Die Bombardierung der Stadt dauerte die ganze Nacht an. In der Gemeinschaftsküche sitzen junge Leute aus Charkiw, die verzweifelt mit ihren Eltern dort sprechen.
Heute fahren wir nach Ushgorod, der westlichsten Stadt der Ukraine. Wann und ob der Zug kommt, ist unklar. Ostap sieht gesund aus, Gott sei Dank. Er fragt, ob wir nach Kiew gehen. Ich lenke ab, sage, dass er seine Schwester bald wiedersieht.
Meine Freundinnen in Ushgorod umarmen uns nach der Ankunft. Da kommt meine Tochter. Ich drücke sie an mich und breche zum ersten Mal in Tränen aus.
Während sie mit Ostap spielt, leite ich Spenden weiter. Das lenkt vom ständigen Strom der Nachrichten über schwere Kämpfe ab. Auf einmal geht der Fernseher aus. Eine russische Rakete traf das Fernsehzentrum in Kiew. Passanten starben. Nach einer Weile senden TV-Kanäle wieder.
Anastasia meldet Stromausfall bei sich. Mit ihren zwei Kindern will sie morgen doch aus Kiew raus. Wie, welche Straßen, fragt sie. Ich kann nichts raten.
Meine Schwester berichtet von ihrem Untergrundleben: über 300 Leute in einem unbeheizten Schulkeller, draußen minus 2 Grad. Immer mehr sind krank. Sie fühlt sich auch unwohl, sendet aber Grüße im Glauben an den Sieg. Mögen bloß alle überleben.
Tag 7
Wir stehen auf und haben keine Ahnung, was für ein Wochentag ist. Wir rechnen in Kriegstagen, heute ist der siebte.
Mein Mann schickt mir eine SMS, dass er mich liebt. Alle früheren Streitigkeiten sind bedeutungslos. Wir schaffen alles, meint er. Ich soll mich nicht sorgen, er sei auf der Hut.
Anastasia ist nicht aus Kiew weg – zu gefährlich.
Der Bahnhof in Ushgorod ist überfüllt mit Flüchtlingen, einige stehen wie erstarrt auf dem Bahnsteig; einige wollen sofort zurück.
Aufruf an die Bevölkerung in Ushgorod, Teppiche nicht draußen auszuklopfen, Flüchtlinge erschrecken bei jedem Geräusch.
Später schickt mir mein Mann ein Video mit russischen Gefangenen. Warum sie noch leben, frage ich mich. Der Hass macht alles Gute im Herzen blind.
Olha M. – „Der Krieg hat mich gelehrt, in kurzen Sätzen zu sprechen“
Olha M., 36, arbeitete bis vergangene Woche als Dozentin für Wissenschafts- und Technologiegeschichte an einer Universität in Kiew Am Morgen des 24. Februar wurde sie von Detonationen geweckt, überstürzt verließ sie ihre Wohnung. Kurze Zeit später saß sie in einem Zug nach Polen. Hinter der Grenze stieg sie in einen Bus nach Krakau, um von dort aus zu ihrem Freund nach Basel zu fliegen.
Freitag, 25. Februar, 13.30 Uhr
Ich erreichte Krakau heute früh um 5 Uhr. Bei einer Freundin konnte ich ein paar Stunden schlafen. Die Nachrichten, sie werden immer schlimmer. In Obolon, meinem Viertel, wird nun geschossen. Ein abgeschossenes Flugzeug fiel auf das Gebäude nebenan. Wenn ich so etwas lese, fange ich an zu weinen. Das war gestern noch nicht so.
Heute war ein sonniger Tag, wir sind zur Bushaltestelle gelaufen. Es ist wirklich eine Erholung, wenn man nicht ständig auf das Telefon oder den Computer schaut.
Samstag, 18.21 Uhr
Gestern bin ich von Krakau nach Frankfurt am Main geflogen. Ich saß neben einer 25-Jährigen, die die Grenze zu Fuß überquert hatte. Sie fragte, wie eine Atomwaffe aussieht. Ich habe früher an einem Projekt zur Geschichte von Tschernobyl gearbeitet und konnte ihr erklären, was die radioaktiven Isotope mit einem Körper anstellen, wenn sie eingeatmet werden, bevor sie zerfallen. Der Flug hatte so viel Verspätung, dass ich in Frankfurt übernachten musste.
Ich telefonierte mit meinem Vater. Er lebt in Irpin, einem Vorort von Kiew, und will dort bleiben, um zu kämpfen. Er sei zu den „territorialen Verteidigungseinheiten“ gegangen, erzählte er, aber die hätten ihn mit 67 für zu alt befunden. Das ist schade. Ich wünschte, mein Vater hätte Waffen. Er ist ein eher friedlicher Mensch, eine kreative Seele, ich weiß, er würde die Waffen nicht leichtfertig einsetzen. Außerdem berichtete mein Vater, dass überall in Irpin verbrannte russische Leichen lägen. Es war schockierend festzustellen, dass uns diese Tatsache glücklich machte.
Als ich heute Vormittag in den Anschlussflieger nach Basel steigen wollte, las ich von einem Luftalarm in Lwiw. Die Stadt, in der meine Mutter lebt und die ich bislang für relativ sicher hielt. Das war der stressigste Moment bislang. Ich schrieb ihr sofort eine Nachricht, sie ging in den Keller.
In unserer Familie sagen wir einander normalerweise nicht direkt, dass wir den anderen lieben. Jetzt schon. Auch meine Mutter antwortete: „Ich liebe dich.“ Ich begriff selbst nicht, warum ich nach Basel flog, anstatt in die Ukraine zurückzukehren, um meiner Mutter und meinem Vater zu helfen.
Auf dem Flug weinte ich viel. Ich versuchte, mich zu beruhigen: Der Schutzraum im Haus meiner Mutter befindet sich im Keller, sie muss nicht auf die Straße. Die, die noch da sind, kennen sich, und es gibt eine Toilette. In meiner Kindheit spielten wir bei Regen oft dort unten, bekritzelten die Wände. Es gab Sportgeräte und einen Klavierraum, sonst nur einige Holzbänke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute dort lange bleiben können.
Später berichtete meine Mutter, sie sei wieder in ihrer Wohnung. Sie hat die Fenster abgeklebt. Nur bei einem hat sie eine Ecke ausgespart, die Orchidee auf der Fensterbank soll etwas Licht bekommen. Vier weitere Luftalarme gab es heute in Lwiw. Irgendwann schrieb ich meiner Mutter, dass es doch gesund sei, die Treppen rauf und runter zu laufen. Ein Scherz. Wie ist das überhaupt möglich, Scherze zu machen?
Als ich gegen 14 Uhr in Basel ankam, fühlte ich mich ruhig, kaltherzig. Mein Partner weinte. Er war glücklich, dass ich es nach Basel geschafft hatte. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es gut ist, so weit weg zu sein.
Ich fühle mich wie im Energiesparmodus. Wenn mir Nachrichten oder Informationen nicht wichtig genug erscheinen, mache ich mir gar nicht erst die Mühe, sie anzusehen. Der Krieg hat mich auch gelehrt, in kurzen Sätzen zu sprechen.
Wir fuhren vom Flughafen aus direkt zur Demonstration. Es war voll für diese kleine und ruhige Stadt. Aber ein paar Slogans enttäuschten mich. So was wie „Kein Krieg in der Ukraine“ oder „Frieden in der Ukraine“. In der Ukraine herrscht ja bereits Krieg, und Frieden wird es sobald nicht geben. Ich will, dass Truppen aus anderen Ländern kommen und helfen, die Bastarde rauszuschmeißen, ich will ein Ölembargo für Russland, ich will mehr Sanktionen, auch gegen Weißrussland.
Ich habe viele Freunde in Russland, einer ist Redakteur bei einem Onlinemagazin. Er hat gefragt, ob ich eine Kolumne schreiben möchte. Ich habe zugesagt. Wir haben Verwandte in Russland, die Putin unterstützen und sehr seltsam auf uns reagieren. Darüber möchte ich schreiben.
Die Schwester meiner Mutter zum Beispiel weigert sich, überhaupt über Politik zu sprechen, und probiert es meine Mutter doch, unterbricht sie sie mit den Worten „Ich will das nicht hören.“ Meine Mutter hat auch einige Links an meinen Cousin geschickt. Er antwortete schroff: „Warum schickst du uns Links, wenn wir dich nicht darum bitten?“ In der Kolumne soll es um die Verantwortung der einfachen Russen in diesem Krieg gehen. Viele von ihnen sagen: „Es ist nicht unser Krieg“, aber nur sie, das russische Volk, haben die Macht, Putin abzusetzen.
Heute fühle ich mich stark, trotz allem. Nur das Einschlafen fällt mir zurzeit schwer. Ich habe Angst, dass etwas passiert und ich es nicht mitbekomme.
Montag, 4.25 Uhr
Mein Energielevel ist gesunken. Vielleicht hat das Adrenalin nachgelassen. Ich habe seit gestern viermal geschlafen. Ich habe es zwar über die Grenze geschafft, ohne tagelang in einer Schlange stehen zu müssen, trotzdem bin ich absolut erschöpft. Ich wache bereits müde auf. Ich kann keine langen Strecken gehen, ich kann nicht lange stehen. Immerhin habe ich heute die erste Kolumne geschrieben.Ich habe unschöne Nachrichten von meiner Freundin Masha. Wegen ihrer Katze ist sie in Kiew geblieben. Und weil sie keinen Ort hat, an den sie fliehen könnte – alle ihre Verwandten leben auf der Krim.
Gestern Abend gingen sie und ihr Nachbar zu einem Schutzraum. Am Eingang kontrollierte jemand ihre Taschen. Als die Sicherheitsleute bei ihrem Nachbarn eine alte sowjetische Militärdienstkarte fanden, verdächtigten sie ihn als russischen Spion. Masha schaltete sich ein und wurde gleich mit verdächtigt. Die Sicherheitsleute forderten beide auf das Wort „palianytsia“ zu sagen, ein ukrainisches Wort, das Russen nicht richtig aussprechen können. Masha und ihr Nachbar bestanden den Test. Trotzdem versuchten sie, Masha das Handy wegzunehmen, aber das wäre das Schlimmste, also wehrte sie sich.
In dem Schutzraum traf sie auf einen Bekannten, einen queeren Modedesigner, der ursprünglich aus Luhansk stammt. Die Kiewer hielten ihn für den erfahrensten Kämpfer. Er schlüpfte spontan in die Rolle eines Kommandanten. Bis ihn das Schauspiel langweilte, er in den Nachbarraum ging und dort zu sticken begann. Sehr witzig.
Olha M.
Mein Partner und ich haben in einem Restaurant zu Abend gegessen, aber wir kamen schnell zurück, als ich von einem weiteren Luftalarm in Lwiw erfuhr. Der bloße Gedanke daran, dass meine Mutter in den Luftschutzkeller muss, ist niederschmetternd.
Ansonsten geht es mir in der Wohnung meines Partners besser. Er kümmert sich viel, hat sogar Buchweizen für mich gekocht, obwohl er den nicht mag. Ich habe das Gefühl, nicht wirklich anwesend zu sein. In normalen Zeiten würden wir uns umarmen, küssen, kuscheln, etwas Schönes für das Wochenende planen. Aber ich bin so sehr in Gedanken, dass ich diese emotionale Verbindung nicht so stark fühle wie sonst. Und das, obwohl wir uns fast zwei Monate nicht gesehen haben.
Vor lauter Stress kann ich nicht wirklich Deutsch sprechen, weil es mir mehr Konzentration abverlangt als Englisch. Nun spricht mein Freund Deutsch und ich antworte auf Englisch. Auch er ist wegen allem sehr gestresst.
Mittwoch, 23.35 Uhr
Ich habe mit dem Schreiben dieses Tagebuchs eine Pause eingelegt, weil ich den Eindruck hatte, dass nichts allzu Interessantes passiert ist. Das ist aber nicht ganz richtig. Denn ich bin in den vergangenen Tagen zum Medienstar geworden. Vor dem Krieg schrieb ich immer lange an einem Artikel, jeden Tag höchstens drei Absätze. Jetzt habe ich mich in eine Textproduktionsfabrik verwandelt. Ich habe auch etliche Interviews gegeben. Vier allein am Montag.
Die Journalisten fragen mich ständig Dinge, die ich nicht weiß. Wie beurteile ich die Schweizer Reaktion auf den Krieg in der Ukraine? Wie viele Ukrainer unterstützen das Ziel, der Nato beizutreten? Was eint die Ukrainer? Vielleicht die Liebe zum Buchweizen, könnte ich sagen, aber das wäre keine gute Antwort. Also improvisiere ich. Ich hinterfrage das Konzept der Schweizer Neutralität. Was die Ukrainer eint, ist natürlich die Kultur. Und ich sage, die Mehrheit der Ukrainer sei für einen Nato-Beitritt.
Trotzdem ist das eine Belastung für mich. Ich will nicht berühmt werden. Und ich kann auch nicht als Expertin für den Krieg in der Ukraine auftreten. Ich bin Expertin für die Geschichte der Fahrradmobilität und des russischen Nationalismus zwischen 1906 und 1912.
Ich habe einen Spendenaufruf gestartet. Meine internationalen Freunde geben viel. Ich habe das Geld weitergeleitet, die Empfänger sind sehr dankbar.
Während ich diese Zeilen schreibe, gibt es in Kiew wieder heftige Explosionen. Mein Vater ist immer noch in Irpin. Meine Mutter pendelt zwischen Schutzraum und Wohnung. Ich weine nicht mehr jedes Mal, wenn es einen Luftalarm gibt, aber leid tut sie mir trotzdem.
Masha hat es geschafft, mit ihrer Katze den Fluss in Kiew zu überqueren und einen Zug nach Lwiw zu nehmen. Morgen wird sie mit einem Freund nach Polen weiterfahren.
Viele Journalisten haben gefragt, wie wir all das bewältigen können. Mein Vater ist übermäßig optimistisch, ich bleibe sehr aktiv und energiegeladen. Es ist nicht der richtige Moment, um traurig zu sein. Was könnte ich noch ausrichten, wenn ich traurig wäre?
Freitag, 1.57 Uhr
Die verdammten Orks haben heute Nacht das Atomkraftwerk in Saporischschja beschossen. Das war die schrecklichste Nacht meines Lebens. Die Russen bedrohen die Welt – die gesamte. Was muss noch geschehen, bevor ausländische Armeen auf unserer Seite in den Krieg eintreten?
Die „Armee der Psychologen“ berät die Ukrainer, wie sie ihre Seele vor dem Krieg schützen können – sich nicht 24 Stunden am Tag mit ihm befassen und sich immer wieder ausruhen. Ich denke auch darüber nach, eine Pause einzulegen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Ich glaube, im Krieg gibt es keine Wochenenden.
Aus dem Englischen von Nora Belghaus
Dmytro N. – „Ich fühle mich wie ein Kind, das endlich los will“
Dmytro N. ist 40 Jahre alt, kommt aus Luzk im Nordwesten der Ukraine, und arbeitete vor dem Krieg als Berater für einen internationalen Automobilkonzern. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter, 14 und 17 Jahre alt. Nach Ausbruch des Krieges beschloss er, der Armee beizutreten, obwohl er kein ausgebildeter Soldat ist. Er absolviert nun im Schnelldurchlauf eine militärische Ausbildung zum Maschinengewehrschützen.
24. Februar, Tag 1
Ich bin von der Nachricht eines Bekannten aufgewacht: „Es hat begonnen.“ Ich ging zum Fenster und stellte fest: Ja, es war Krieg. Erst gab eine Explosion am Militärflugplatz. Danach eine am anderen Ende der Stadt. Ich weckte die Kinder und meine Frau. Sie begannen zu packen.
In meinem Kopf schwirrten die Gedanken. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ein umfassender Krieg aussah. Wir kannten Krieg nur aus Filmen, aus Büchern, es war kaum zu glauben, dass uns das nun passierte.
Trotzdem blieb die Angst aus. Zuerst musste ich mich um meine Familie kümmern. Ich bat meine älteste Tochter beim Packen zu helfen. Sie sagte: Papa, ich bin beschäftigt, ich trage Make-up auf. Ich habe so laut geschimpft! Am Abend schickte ich die Familie in ein Dorf, nahe der Grenze zu Polen – meinen Vater, meine Frau, Schwiegermutter, zwei Töchter und die Kinder des jüngeren Bruders. Ich blieb.
Tag 2
Heute fuhr ich zum militärischen Registrierungs- und Rekrutierungsamt in Luzk, um mich bei den Streitkräften anzumelden. Ich wurde abgelehnt, weil ich noch keinen Dienst geleistet habe. Sie sagten: „Gehen Sie zur Territorialverteidigung.“ Ich seufzte, aber Regeln sind Regeln. Sie sagten trotzdem zu, sich bei mir zu melden, wenn es eine Chance auf eine Aufnahme ins Militär gäbe.
Freunde aus Kiew riefen an und baten mich um Hilfe. Sie wollten ins Ausland fliehen und brauchten auf dem Weg an die Grenze einen Ort zum Übernachten. Luzk ist relativ ruhig. Ich sagte ihnen zu, sie am Stadtrand abzuholen und in das Dorf zu meiner Familie zu bringen.
Tag 3
Ich habe immer noch nicht richtig geschlafen. Die Familie meines Freundes kam erst fünf Stunden nach der vereinbarten Zeit am Stadtrand an. Der Stau ist endlos. Autos, Autos, Autos… Aus dem ganzen Land. Die Polizei kontrolliert alle, es dauert ewig. Noch immer hat sich das Militäramt nicht gemeldet.
Tag 5
Heute habe ich beschlossen, nicht noch länger auf Nachricht aus dem Militäramt zu warten und bin nochmal hingefahren. Ich fand einen Oberstleutnant, dem ich sagte: Ich bin sicher, dass ich auch ohne militärische Erfahrung nützlich sein werde. Ich bin in guter körperlicher Verfassung, treffe schnelle Entscheidungen und will das Land verteidigen. Er ließ sich überzeugen. Ich sollte am nächsten Tag wiederkommen, für eine Musterung.
Tag 6
Ich habe alle medizinischen Tests bestanden – ich könnte sogar in den Weltraum fliegen. Man fertigte mir einen Militärausweis an. Sie sagten, dass wir bereits in ein paar Stunden mit dem Zug abreisen würden. Wohin wussten sie nicht.
Tag 7
Endlich eine freie Minute. An dem Stützpunkt angekommen, wurde ich einer Gruppe der Armee zugeteilt. Beim Vorstellungsgespräch fragten sie nach meiner Bildung. Ich habe zwei Abschlüsse. Sie wiesen mich an, mich um die Buchhaltung zu kümmern, obwohl ich damit gar keine Erfahrung habe. Ich bin es noch nicht gewohnt, Befehle zu befolgen, also geriet ich in meine erste verbale Auseinandersetzung mit einem Offizier. Ich gewann, und bekam die Zusage für eine Ausbildung zum Maschinengewehrschützen.
Später wurden wir ausgerüstet. Es waren viele Soldaten, die Prozedur zog sich, aber ich langweilte mich nicht. Die Stimmung wird heiter, wenn man das lächelnde Gesicht eines Bruders in einer brandneuen Uniform und Schuhen mit einer hellen ukrainischen Flagge auf den Winkeln sieht. Ich habe meine Ausrüstung als einer der letzten bekommen. Einige sehr müde junge Damen ermittelten meine Größe und kleideten mich von Kopf bis Fuß ein, inklusive der Unterwäsche. Alles wie für mich genäht, ich war beeindruckt. Die Stimmung wurde noch besser – ich war schon fast ein richtiger Soldat.
Vor dem Schlafengehen besprachen wir die Lage an den Fronten, lasen internationale Nachrichten. Alle wollen schnell in den Kampf. Aber erst müssen für uns noch Waffen beschaffen werden, wir müssen dem Volk der Ukraine einen Treueid leisten, lernen, wie man im Team arbeitet und sich einem Kommandanten beugt. Ich fühle mich wie ein Kind, das endlich los will. Gleichzeitig wird dieser Wille von Müdigkeit gedämpft.
Tag 7
Im Kriegsdienst ist so vieles anders. In Zeiten des Friedens nehmen wir uns für gemeinsame Essen viel Zeit, man unterhält sich, trinkt etwas, genießt. Ein Soldat trinkt natürlich keinen Alkohol – ein betrunkener Soldat ist ein toter Soldat – aber er führt auch keine Gespräche und alles geht sehr schnell.
Ich werde das Gefühl der Verlegenheit und Schüchternheit immer noch nicht los, wenn wir in den Warteschlangen der Essensausgabe vorgelassenwerden und man sich bei uns bedankt. Wann werden wir beginnen, diese „Schulden“ abzubezahlen?
Aus dem Ukrainischen von Kateryna Kovalenko
Alma L. – „Der Krieg wird immer alltäglicher“
Alma L. ist 21 Jahre alt und kommt aus Czernowitz, einer Stadt nahe der Grenze zu Rumänien. Vor knapp drei Wochen ist sie aus einem Auslandsaufenthalt in Belgien nach Lwiw zurückgekehrt wo sie Politikwissenschaften, Ethik und Wirtschaft studiert. Jetzt wohnt sie in einem großen Wohnhaus und teilt sich die Wohnung mit einer anderen jungen Frau und deren jüngeren Schwester.
Seit Kriegsbeginn versucht Alma auf unterschiedliche Weise zu helfen, indem sie als freiwillige Helferin bei der Essensversorgung unterstützt, fliehenden Menschen Unterkünfte vermittelt oder für ausländische Medien berichtet und übersetzt. Sie möchte das Land nicht verlassen. Auch ihre Eltern, der Bruder und ihre Großmutter sind in ihrer Heimatstadt Czernowitz geblieben.
Donnerstag, 24. Februar
Ich wurde heute von Sirenen geweckt. Mein Vater schrieb mir eine Nachricht. Ich solle ruhig bleiben und alles werde gut. Sowas hat er noch nie gesagt.
Ich unterdrückte den Impuls, meinen westeuropäischen Freunden – die mich in den letzten zwei Monaten davon überzeugen wollten, dass schon nichts passieren wird – zu schreiben: „Ich hab's ja gesagt“. Im Radio sagen sie, wir sollen genug Essen und Kleidung für drei Tage einpacken. Eigenartig, wie das die Prioritäten gerade verrrückt.
Ich habe die Wohnung heute nur einmal verlassen, um Einkaufen zu gehen. Das war das erste Mal, dass ich wirklich Angst hatte. Ich schloss schnell die Tür ab. Acht Stockwerke die Treppe hinunter zu laufen, schien mir wie eine Ewigkeit. Einige Regale in den Geschäften sind schon komplett leer – vor allem Konserven und Trockenwaren. Außer Kabeljaukaviar.
Ich habe die Fenster zugeklebt, damit die Glassplitter im Falle einer Explosion zusammengehalten werden. Es gab die Anweisung, das Licht um 23 Uhr auszuschalten. Ich stelle mir den Wecker auf 2 Uhr, denn es heißt, dass es dann Luftangriffe geben könnte.
Freitag
Die Sirenen gingen erst um 6 Uhr statt um 2 Uhr los. Die Leute haben die ganze Nacht gewartet. Das könnte eine Taktik sein – um uns zu erschöpfen. Durch das Fenster sah ich in der Nacht ein Licht am Himmel flackern. Sofort sprang ich auf. Aber es war nur ein Stern. Der Himmel war so klar und die Stadt so dunkel, dass die Sterne deutlicher als sonst zu sehen waren. Es ist unbegreiflich, dass die Schönheit der Natur und der Krieg gleichzeitig existieren. Ich kann mir immernoch nicht vorstellen, dass Menschen uns das antun. In meinem Kopf ist es eine namenlose, gesichtslose Macht.
Am Morgen sollte ich Unterricht haben, aber es waren nur drei Leute da. Ich überlege, ob ich einer guten Freundin bei der Recherche über Sanktionen helfen soll, aber ich weiß, dass ich jetzt nicht viel nachdenken kann. Ich muss handeln. Tausende Freiwillige haben sich organisiert. Ich bin eine von ihnen. Heute habe ich versucht, Lebensmittel für die Soldatenküche aufzutreiben.
Ich weiß nicht, was im Ausland über unseren Widerstand gedacht wird, aber ich glaube, sie können den Widerstand nicht begreifen. Mich interessieren gerade nicht die Gefühle oder Überlegungen, die diese Situation bei irgendjemandem auslöst. Jetzt zählen nur noch Taten.
Ich versuche auch geflüchteten Menschen eine Unterkunft zu vermitteln, aber es gibt so viele Anfragen. Es ist sehr hektisch, ich bin erschöpft und von Informationen überwältigt. Aber die Wut, die ich spüre, gibt mir grenzenlose Energie. Ich kann mich kaum zurückhalten, ich laufe ständig auf und ab. Es ist plötzlich so klar, was richtig und falsch ist und was ich tun muss. Jede Minute ist kostbar. Sie kann ein Leben kosten und wenn sie zu viele Leben kostet, kann sie ein Land kosten.
Samstag
Ich bin so müde, dass ich kaum denken kann. Das fühlt sich nicht gut an. Ich mochte die Klarheit, die mir meine Wut gab. Heute war ich dreimal im Luftschutzkeller. Die Menschen erschienen mir relativ ruhig, aber ich glaube, die Tiere spüren die Angst, die in der Luft liegt. Die Hunde und Katzen waren alle nervös. Eine Frau hat mich beschimpft, weil ich „diesen Horror“, wie sie sagte, fotografierte. Ich finde, nicht nur gute Dinge sind es wert, dokumentiert zu werden. Ich möchte, dass die Menschen dieses Leid sehen und ich möchte mich selbst daran erinnern.
Es wird wieder schwere Kämpfe in Kyiw geben. Ein guter Freund hat mich gefragt, ob ich für die Territorialverteidigung kugelsichere Westen auftreiben kann. Sein Vater hat sich ihnen angeschlossen. Ich fühle mich schuldig, weil ich heute so lange unter der Dusche stand, weil es Zeit gekostet hat.
Mein Vater hat mir geschrieben, dass ich das Land verlassen soll. Aber ich würde es bereuen wegzugehen. Ich werde bleiben.
Sonntag
Am Morgen gab es keine Sirenen, also schlief ich, bis mich wieder Leute wegen Lebensmittelspenden anriefen. Sonntage scheinen auch in Kriegszeiten immer noch Sonntage zu sein. Es ist ruhiger und die Freiwilligenküche ist geschlossen. Wir versuchen, die Logistik für die humanitäre Hilfe aufzubauen. Ein Freund in Polen wird einige Ukrainer an der Grenze abholen. Eine Freundin aus Rumänien „bombardiert“ mich mit Nachrichten zu Unterkunftsmöglichkeiten. Ich muss essen, aber ich bekomme ständig Anfragen für irgendetwas.
Ich muss einen kühlen Kopf bewahren. Die Soldaten kämpfen für mich an der Front, ich kämpfe für sie. Der Krieg wird nicht allein gewonnen. Aber ich tue das nicht mehr aus ruheloser Wut. Ich glaube, es ist Liebe.
Montag
Meine Suche nach kugelsicheren Westen blieb bisher erfolglos. Nach fünf Tagen höchster Alarmbereitschaft schaue ich mir auf dem Handy die Anfragen an und sage mir, dass sie auch jemand anderes beantworten kann. Der Krieg wird immer alltäglicher.
Meine Mitbewohnerin ist während des Alarms nicht in den Luftschutzkeller gegangen. Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich, ich werde sie nicht zwingen, mit mir zu gehen.
Ich habe im Moment nicht viel Mitgefühl oder Empathie für andere. Wenn die Realität so hart ist, fällt es mir schwer, mich in andere hineinzuversetzen.
Es wirkt auf mich, als gäbe es die UdSSR immer noch. Russland fährt immer noch die gleiche Linie. Vielleicht ist das der Grund, warum mein Vater mit Russland sympathisiert. Er vermisst die UdSSR, seinen 9-to-5 Job als Ingenieur. Er wurde nicht in der harten Realität des Kapitalismus, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ukraine Einzug hielt, sozialisiert.
Dienstag
Ich bin erschöpft. Ich esse weniger als vor dem Krieg. Ich muss mich konzentrieren, kann es aber nicht.
Die Zeit hat ihr normales Tempo wiedergefunden. Zwei verschiedene Organisationen wollen, dass ich ihre Projekte leite und ich kenne mich in keinem der beiden Bereiche aus. Ich fühle mich überfordert.
Dieses Gefühl war in den ersten Tagen verschwunden, aber jetzt ist es wieder da. Im Januar habe ich zum ersten Mal einen Termin bei einem Therapeuten gemacht. Der Termin war für heute angesetzt und ich habe ihn verpasst. Es ging um Depressionen.
Seltsamerweise glaube ich aber, dass mich der Krieg aus der Depression herausholt. Ich habe mich noch nie so verantwortlich gefühlt, mein eigenes Leben zu retten wie jetzt.
Die Polizei hat heute Kinder aufgehalten, die Markierungen für russische Landeoperationen auf die Straße malten. Die Russen heuern sie per Telegramm an und zahlen ihnen 10-15 Dollar pro Markierung. Zum Glück decken Freiwillige die Markierungen wieder ab.
Mittwoch
Ich bin gestern Abend sehr spät ins Bett gegangen und heute erst gegen 11 Uhr wach geworden. Ich stellte fest, dass ich tatsächlich einen Luftalarm verschlafen hatte.
Gemeinsam mit einer Freundin versuche ich, den Transport für humanitäre Hilfe und Munition zu organisieren. Einige Städte im Osten und vor allem im Süden sind besetzt. Lebensmittel kommen dort nicht an. Es muss dringend ein Korridor für humanitäre Hilfe geschaffen werden.
Die Russen haben heute Babyn Yar bombardiert, ein Flussbett, in dem die Nazis fast 34.000 jüdische Menschen ermordet haben. Ich glaube nicht, dass sie den Ort ausversehen bombardiert haben.
Der Krieg hat mich von meiner Schlaflosigkeit geheilt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich im Epizentrum einer historischen Wende befinde. Meine Mutter hat mir heute geschrieben. Ihre Nachrichten waren bruchstückhaft und sie wiederholte sich in ihren Aussagen. Ich machte mir Sorgen und rief sie an. Ich habe selten so viel Sorge in ihrer Stimme gehört.
Donnerstagabend
Heute war der mit Abstand unproduktivste Tag der ganzen Woche. Ich kann nicht sagen, ob ich optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft blicke. Meine Einstellung schwankt von Tag zu Tag. Zum Glück kommt der Frühling.
Ich möchte nicht weggehen. Ich war schon einmal eine Ausländerin. Ich habe mal in den USA gelebt und fühle mich dem Land und seiner Kultur verbunden, aber trotzdem gibt es nichts Besseres als zu Hause zu sein. Ich möchte hier eine Zukunft haben.
Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!