Tagebuch aus Griechenland I: „Wir haben Sozialismus jetzt!“
Eine Aktivistin aus Athen, eine Exilgriechin aus Berlin, eine Bankangestellte aus Thessaloniki und der Schriftsteller Nikos Dimou haben Tagebuch geführt.
Sonntag, 28. Juni
In der Nacht hat das Parlament getagt: Es wird ein Referendum geben. Die Griechen und Griechinnen sollen über die Reformen abstimmen, die die Eurogruppe als Bedingung für die Verlängerung des Hilfsprogramms fordert. Die Gespräche zwischen der Eurogruppe und Griechenland sind am Samstagnachmittag gescheitert.
Am Abend verkündet der griechische Premier Alexis Tsipras in einer Fernsehansprache, dass die Banken in der kommenden Woche geschlossen bleiben. Barabhebungen sollen beschränkt werden. Das Auswärtige Amt rät deutschen Urlaubern, sich vor Reisen nach Griechenland mit ausreichend Bargeld zu versorgen.
Dimitra Kyrillou, 50, arbeitet als freiberufliche Ingenieurin in Athen. Sie ist eine linke Aktivistin und Mitglied des linken Bündnisses Antarsya.
Ich bin aufgewacht und habe an die Nachrichten vom Tag davor gedacht. Glücklicherweise habe ich etwas Geld in der Wohnung, ein paar Liter Benzin im Motorrad und ein Fahrrad. Ich will mich von der Panik nicht anstecken lassen, die einige private TV-Sender verbreiten: dass es in Griechenland bald wie in Albanien sein wird.
Meine Partnerin hat sich entschieden, ihre Ersparnisse von der Bank zu holen. Ein Sender zeigt eine ziemlich lange Schlange, aber schließlich stellt sich heraus, dass es eine alte Aufnahme war: Die Menschen tragen Regenmäntel und Winterklamotten – in dieser Jahreszeit unmöglich. Ich werde sauer, wenn ich erfahre, dass ich so manipuliert werde.
Ich unterstütze die griechische Regierung nicht, sondern die linke Opposition. Syriza hat Reformen versprochen, aber nichts umgesetzt, seit sie an der Macht ist.
Ich habe den Tag mit Nachdenken und Telefonieren verbracht. Am Abend wurde bekannt gegeben, dass man jetzt nur noch 60 Euro pro Tag abheben kann. Mir egal, ich verdiene als Ingenieurin pro Tag ohnehin weniger. Meine Lebensgefährtin ist Ärztin. Sie hat sich entschieden, sich für die „Nein“-Kampagne einzusetzen, auch wenn sie Syriza nicht vertraut.
Alexandra Sifaki, 32, lebt in Berlin und forscht an einem naturwissenschaftlichen Institut. Sie hat einen befristeten Vertrag und möchte nichts tun, was ihre Zukunft in Deutschland gefährden könnte. Deshalb schreibt sie unter Pseudonym.
Mein Rucksack ist gepackt. Morgen früh um 3.30 Uhr muss ich los zum Flughafen. Um sechs fliege ich nach Athen. Jetzt fehlt nur noch das Geld für meine Mutter und meine Schwester. Sie konnten nichts mehr abheben.
Gestern war ein schöner Tag. Tsipras hat das Referendum angekündigt. Yeah! Es fühlt sich an wie ziviler Ungehorsam. Das hat die schlechte Nachricht von vorgestern für einen Moment vergessen gemacht.
Vorgestern hat meine Mutter die neue Diagnose bekommen. Wieder Brustkrebs, wie vor 19 Jahren. Zuerst wollte sie gar keine Behandlung. Sie dachte, es wird so schlimm wie damals bei meinem Vater. Aber die Chancen auf Heilung sind gut, hat ihr der Arzt gesagt.
Diese Woche beginnt sie mit der Chemotherapie. Und ich will bei ihr sein. Die Chemo übernimmt die Krankenkasse. Jedenfalls sieht es so aus. Aber alle anderen Medikamente und Untersuchungen müssen wir selbst zahlen, zum Beispiel die Biopsie, die hat 900 Euro gekostet. Und die Magnettomografie für 250 Euro.
Abends sitzen wir zu acht in einer Kreuzberger Kneipe. „The Greek Family“ nenne ich die Runde. Wir mögen Berlin, aber ohne die Krise wäre kaum jemand von uns hier. Ärzte, Naturwissenschaftler, Linguisten. Mehr als die Hälfte meiner Freunde hat in den vergangenen Jahren schon Geld nach Hause geschickt – das wird jetzt natürlich schwieriger. Außer mir wird niemand nach Griechenland fahren.
Von der Kneipe gehen wir alle zusammen zur Sparkasse. Ich und zwei Freunde heben jeweils 1.000 Euro für meine Familie ab. Wie Bodyguards begleiten mich die anderen nach Hause und geben mir Ratschläge, wie ich das Geld sicher vor Räubern verstaue. Darüber mache ich mir die geringsten Sorgen. Zu Hause stecke ich jeweils ein Bündel 50er in die linke und rechte Hosentasche, den Rest unten in den Rucksack.
Maria Ioannidou lebt in Thessaloniki und arbeitet bei der National Bank of Greece. Sie möchte ihre Anstellung nicht gefährden und schreibt deshalb ebenfalls unter Pseudonym.
Müde aufgewacht, ein Dutzend Gedanken gleichzeitig. Was passiert mit unserer Wirtschaft? Mit meiner Familie? Werde ich morgen auf die Arbeit gehen? Was werde ich meinen Kunden sagen? Mein Mann und ich hatten zwei Pläne für den Sommer: Urlaub auf Ithaka, einer griechischen Insel, und mit dem Bau unseres kleinen Hauses am Meer zu beginnen. Ich darf nicht mehr davon träumen, ich sollte mich eher um die praktischen Dinge sorgen. Ich habe nur noch 50 Euro im Geldbeutel. In den Nachrichten sagen sie, dass die meisten Geldautomaten schon kein Bargeld mehr haben. Ich verbringe den ganzen Tag vor dem Fernseher. Es gibt Gerüchte, dass die Banken am Montag nicht aufmachen werden. Schließlich, um 23.15 Uhr, ruft mein Chef von der Bank an. Es ist wahr.
Montag, 29. Juni
Die Banken bleiben geschlossen. Der DAX verzeichnet mit einem Minus von zeitweise 4,6 Prozent den stärksten Kursrutsch seit dreieinhalb Jahren. Die Ratingagentur Fitch bescheinigt vier griechischen Banken einen teilweisen Zahlungsausfall – gäbe es keine Kapitalverkehrskontrollen, wären sie bankrott.
Nikos Dimou, 80, ist Essayist und Philosoph. Er schrieb die Bücher „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ und „Die Deutschen sind an allem schuld“. 2009 kandidierte er für das Europaparlament.
Unser erster Tag ohne Banken. Um die Mittagszeit fangen einige Geldautomaten an zu funktionieren. Es bilden sich Schlangen. Das ist zu einer Gewohnheit geworden. In den letzten fünf Monaten wurden Billionen Euro so von den Banken genommen.
Wo befindet sich dieses ganze Geld jetzt? In Matratzen, Tiefkühltruhen oder Staubsaugern. Es wurde legal oder illegal ins Ausland verschickt. Sogar Syriza-Anhänger haben, vorsichtshalber, ihr Geld von der Bank genommen. Die ewige Unsicherheit der Griechen! Wir vertrauen niemandem. Nicht mal der Partei, die wir gewählt haben.
Dimitra Kyrillou, die Aktivistin: Ich habe beschlossen, ein paar Sachen im Supermarkt einzukaufen. Es war viel los. Einige Leute haben große Einkaufswägen gefüllt, aber nicht alle, ich habe selbst nur zehn Minuten gebraucht. Der nächste Test: Der Wochenmarkt. Hier ist es ruhiger. Wenn man mittags hierherkommt, kann man für ein paar Euro frische Nahrungsmittel kaufen, mit denen man Wochen überleben kann. Eine gute Übung. Wir müssen bald ohne importierte, teure Sachen auskommen. Es kommt darauf an, wie man seine Wirtschaft organisiert.
Ich besuche ein paar Kollegen in ihrem Ingenieurbüro und erwarte Streit. Sie arbeiten oft für Projekte, die mit dem Geld der EU finanziert werden – genau wie ich. Sie sagen, sie arbeiten so lange, wie sie Aufträge haben, und danach sehen sie weiter.
Im Büro habe ich einen Exkollegen getroffen, der vor zwei Jahren mit Familie nach Katar gezogen ist. Er hat gerade Urlaub. Er machte Witze, hat uns gefragt, ob er sich vielleicht auch für uns nach Jobangeboten umsehen sollte.
Wieder zu Hause: Meine Partnerin hat den Tank aufgefüllt. Es gibt Benzin, aber die Tankstellen akzeptieren keine Kreditkarten mehr.
Alexandra Sifaki, die Exilgriechin: Das Flugzeug ist voller Touristen, wie immer im Sommer. Busse und U-Bahnen in Athen fahren umsonst. Wir haben Sozialismus im Moment! Meine Mutter und meine Schwester sind froh, dass ich da bin. Froh auch über das Geld.
Sie werden mit Ja im Referendum stimmen, also für den Vorschlag der Eurogruppe. Mit Nein stimmen die, die nichts mehr zu verlieren haben. Das sind viele. Meine Familie hat noch etwas Geld auf dem Konto.
Meine Freunde hier stimmen mit Nein. Alle. Ich weiß noch nicht, was ich tun soll. Sonntag fliege ich zurück, ich würde es morgens zur Abstimmung schaffen. Entweder Nein ankreuzen und meine Mutter verärgern. Oder nicht hingehen und sie schonen. Mal sehen, wie es ihr geht. Am Mittwoch um 7.30 Uhr müssen wir zur Chemo.
Maria Ioannidou, die Bankangestellte: Die Nachrichten werden schlimmer. Es gibt offenbar nur noch wenig Bargeld. Wir entscheiden uns, das Geld, das wir haben, im Supermarkt auszugeben. Man kann sofort sehen, dass sich die Menschen auf harte Zeiten vorbereiten. Ich hasse dieses Gefühl. Ich musste mir noch nie Gedanken über Bargeld oder Essen machen. Einen weiteren Tag verbringe ich vor dem Fernseher und warte auf einen Anruf von der Bank. Es deutet alles darauf hin, dass ich morgen „frei“ haben werde.
Dienstag, 30. Juni
Um 24 Uhr läuft das Hilfsprogramm der Euroländer aus. Gleichzeitig muss die griechische Regierung beim Internationalen Währungsfonds eine Kreditrate von 1,5 Milliarden Euro zurückzahlen. Tsipras schreibt einen Brief an Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank und Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Er bittet um ein neues Kreditprogramm und akzeptiert einige Bedingungen, die die Gläubiger gestellt hatten. Er möchte bei den Renten, der Mehrwertsteuer und dem Militärbudget nachverhandeln.
Nikos Dimou, der Schriftsteller: Schlangen. Die Leute stehen in Schlangen. Während der Wartezeit wird diskutiert. Sehr populär ist Tsipras bei den Schlangenmenschen nicht. Das erinnert mich an die Zeit der deutschen Besatzung. Damals, als Kind, stand ich stundenlang Schlange, um meine Coupons gegen etwas Essbares zu tauschen.
Alexandra Sifaki, die Exilgriechin: Wir haben Fleisch für zwei Monate gekauft. Nicht nur wegen der Krise. Meine Mutter befürchtet, dass sie in nächster Zeit nicht allein einkaufen gehen kann, wenn es ihr nicht gut geht. Jetzt friert sie Steak für Steak ein. Beim Fleischer gab es sonst keine Hamsterkäufe. Die anderen haben im Gegensatz zu uns ja auch kaum Geld. Manche Leute werden wahnsinnig. Vorhin im Bus haben sich welche angebrüllt. Es braucht nur mal einer „Tsipras malakis!“, Scheiß-Tsipras, zu fluchen, schon beginnt ein Streit über die Zukunft des Landes.
Dimitra Kyrillou, die Aktivistin: Ich vermeide es, Fernsehen zu schauen. Der öffentlich-rechtliche Sender ERT ist auf der Seite der Regierung und recht seriös, aber die privaten Sender führen Krieg gegen Syriza. Sie zeigen Touristen, die ihren Urlaub in Griechenland stornieren, Kioskbesitzer, die rufen, dass sie ruiniert werden, noch mehr Schlangen. Solche Panik, solche Angst! Ich versuche mir immer wieder zu sagen, dass es Teil des Spiels ist, Unsicherheit zu verbreiten, aber genauso manipulativ ist die Zuversicht der Regierung. Was für ein widerliches Ping-Pong-Spiel.
Ich habe im Internet gelesen, dass einige Firmen ihre Angestellten dazu überreden wollen, mit „Ja” zu stimmen. Es gab eine Nachricht von einem bekannten Unternehmer, die retweetet wurde: „Ich habe ihnen gesagt, wenn sie ihr Gehalt wollen, sollen sie zur Ja-Demo kommen und es sich holen.”
Maria Ioannidou, die Bankangestellte: Das Haus ist nicht groß genug für mich. Ich entscheide mich, einen Spaziergang zu machen, und meine täglichen sechzig Euro vom Geldautomaten zu holen. Die Schlange ist lang. Wird es so von jetzt an jeden Tag sein?
Ich nehme einen Bus in die Innenstadt von Thessaloniki, weil ich sehen will, wie die Atmosphäre dort ist. Ich schaue heimlich den Menschen ins Gesicht. Alle wirken gedankenverloren, egal, wie alt sie sind. In den Geschäften ist niemand, Verkäuferinnen warten am Eingang darauf, dass die Zeit vergeht. Ich muss zugeben, dass ich Angst habe. Angst, in die Geschäfte zu schauen (könnte es provozieren?), Angst, morgen zur Arbeit zu gehen (womit werde ich es zu tun haben?).
Spät in der Nacht ist es für mich unmöglich zu entspannen. Ich denke darüber nach, dass die Menschen die Kontrolle über sich verlieren und mich oder meine Kollegen verletzen könnten, sobald wir die Bank öffnen. Ich bin wütend. Warum haben sie auch keine EC-Karte? Ein paar Minuten später fühle ich mich wie der schlechteste Mensch auf Erden und fange an zu weinen.
Den zweiten Teil des Tagebuchs lesen Sie am Sonntag auf taz.de.
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