Tagebuch aus Georgien: Wenn der Staat zuschlagen lässt
Unser Autor lebt in Tblissi, sein Cousin auch. Der stellt sich vor Wahllokale, um die Opposition einzuschüchtern. Georgiens Regierung findet das gut.
J eden Abend versammeln sich in den Vororten von Tbilissi Gruppen junger Männer vor Imbissbuden. Schwarz gekleidet hocken sie auf dem Bürgersteig, der Geruch von Marihuana umgibt sie. Ihre Anwesenheit ist zur Gewohnheit geworden. Sie sind nicht einfach nur Herumlungerer, sie sind vielmehr Teil eines wachsenden kriminellen Netzwerks – und zwar als Straßenkämpfer der Behörden. Man nennt sie Titushkis. Ihre kriminelle Engergie setzen diese Leute zum Nutzen der georgischen Polizei und der Streitkräfte ein.
Das gibt es auch in meiner Familie. Am Wahltag, den 26. Oktober 2024, zog mein Cousin Georgy seine Kapuze hoch und ging zum Wahllokal. Er wollte nicht seinen Stimmzettel in die Urne werfen, sondern er wurde dafür bezahlt, draußen zu stehen und die Anhänger der Opposition einzuschüchtern.
Dazu sagte er kein Wort. Das war auch nicht nötig – seine bloße Anwesenheit genügte, um die Leute vom Wahllokal fernzuhalten. Er hat etwa 100 Euro am Tag verdient, aber Geld war für ihn zweitrangig. Es ging ihm um Loyalität, darum, seine Treue zu seinem Netzwerk zu beweisen.
Die Aktion ging jedoch weit über die Einschüchterung von Wählern hinaus. Nach den umstrittenen Wahlergebnissen und der Entscheidung der Regierung, die Integration in die EU zu stoppen und mit Russland zu kuscheln, gingen bis heute Tausende Demonstrant:innen auf die Straße.
Und die Polizei schaut einfach zu
Maskierte Schläger lauerten in den Gassen und griffen die Demonstrant:innen an. Ein Video zeigt, wie ein Journalist und sein Kameramann zu Boden geschlagen werden und einer der Angreifer auf den Kopf des am Boden liegenden Mannes eintritt. Ein anderes Video zeigt, wie Schauspieler angegriffen werden und die Polizei dabei einfach zusieht. Keiner der Angreifer wurde festgenommen.
Es handelt sich nicht nur um kriminelle Gruppen oder Einzeltäter, sondern es ist eine Truppe, die vom Staat geduldet und gefördert wird.
Ein Lied des georgischen Rappers Zaza Nozadze, das Kriminalität, Herrschaft und traditionelle Männlichkeit verherrlicht, ist in Schulen in ganz Georgien zu einer Art Hymne geworden. Im Text heißt es: „Ein bisschen ruhig, ein bisschen frech, so ist mein Viertel. Drei Farben lieben wir – schwarz, schwarz und schwarz“. Sogar der Bürgermeister von Tbilisi teilte den Song auf TikTok.
Bei dieser Allianz von georgischer Regierung und kriminellen Netzwerken geht es nicht nur um die Kontrolle der Straßen. Es ist auch ein Versuch, die Gesellschaft selbst umzugestalten. Durch die Förderung von Gewalt zerstört der Staat demokratische Normen und stärkt eine ultra-maskuline autoritäre Kultur. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, läuft Georgien nicht nur Gefahr, von seinem Weg nach Europa abzukommen, sondern sich auch in einen Mafia-Staat zu verwandeln, in dem die Macht nicht durch das Gesetz, sondern durch rohe Gewalt bestimmt wird. Eine Gesellschaft also, in der mein Titushka-Cousin mehr Anerkennung erhält als ich als kritischer Journalist.
Tornike Mandaria lebt und arbeitet als Journalist in Tbilisi. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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