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Tagebuch aus EstlandWann kann es wieder Kaviar sein?

In Estland steigen Lebensmittelpreise und auch die Mehrwertsteuer. Die Regierung sagt, dass die Militärausgaben Vorrang haben.

Schnell mal in den Supermarkt: Ladenzeile in Narva Foto: Imago/Pond5 Images

A m ersten Tag nach meinem Umzug von Russland nach Estland vor drei Jahren ging ich als Erstes zum Supermarkt. Ich stand noch unter dem Eindruck des ersten Monats der russischen Invasion in der Ukraine 2022, hatte nur 1.000 Euro Ersparnisse, wollte aber trotzdem die Überquerung der Grenze feiern. In der estnischen Grenzstadt Narva kaufte ich ein Baguette, eine Packung Butter und eine Dose roten Kaviar.

Butterbrot mit Kaviar! Das war eine Mischung aus Stereotypen über den „russischen Chic“ und echter Nostalgie. In den Mythen über Russland steckt immer auch ein Körnchen Wahrheit: Zu Zeiten der Zaren konnte der Stadtbewohner Kaviar in jedem Buffet kaufen, zum Beispiel am Bahnhof. Kaviar war für die Mittelschicht durchaus bezahlbar, man aß ihn mit Löffeln als Vorspeise oder gab sie in Pfannkuchen. In der Sowjetzeit wurde Kaviar jedoch zu einem Festtagsgericht: Man strich ihn dünn auf eine Scheibe Brot, um den Eindruck von Überfluss zu erwecken.

Wahrscheinlich kennt die Mehrheit der Bevölkerungen der ehemaligen sowjetischen Länder diesen Geschmack. Salzig, cremig, ein Fest mit Tränen der Armut in den Augen. Er war also genau das Richtige für den ersten Tag in der Emigration, wenn sich Freude, Tränen und Angst zu gleichen Teilen vermischen.

Die Lebensmittelpreise in Estland sind im Juni 2025 um etwa 39 Prozent höher als im März 2022

Weißbrot, ein Stück Butter, eine Dose Kaviar, ein paar Flaschen Sprudelwasser und Cola kosteten mich damals in Narva insgesamt 15 Euro. Drei Jahre und fünf Monate später gehe ich in der estnischen Hauptstadt Tallinn in einen Supermarkt und kaufe ungefähr die gleichen Lebensmittel. Das ergibt etwas weniger als 20 Euro. Der Kaviar macht mehr als die Hälfte des Einkaufskorbs aus – 11 Euro für 100 Gramm. Aber auf jeden Fall scheint es, als müsse man den Kaviar nach sowjetischer Art dünn auftragen.

Niedriger Mindestlohn, nicht viel höherer Durchschnittslohn

Mein absurdes Beispiel mit dem Kaviar spiegelt einen allgemeinen Trend wider. Selbst bei einem ganz bescheidenen Einkauf, bei dem ich nur vier oder fünf Dinge besorgen muss, die zu Hause fehlen, gebe ich selten weniger als 20 Euro aus. Der Preis für einen wöchentlichen Einkauf für zwei Personen liegt bei über 150 Euro. Dabei liegt der durchschnittliche Bruttolohn in Estland bei 1.980 Euro. Viele Menschen in Estland leben sogar vom Mindestlohn, der hier 886 Euro beträgt. Da bleibt sowieso kein Geld für Kaviar.

Die Verteuerung von Lebensmitteln ist eines der wichtigsten Probleme für die Einwohner Estlands, mich eingeschlossen. Nach Angaben des lokalen Statistikamtes und Eurostat sind die Lebensmittelpreise in Estland im Juni 2025 um etwa 39 Prozent höher als im März 2022. Am 1. Juli 2025 wurde meinem Geldbeutel ein weiterer Schlag versetzt. An diesem Tag stieg die Mehrwertsteuer in Estland von 22 Prozent auf 24 Prozent, ohne die in anderen europäischen Ländern geltende Ausnahme für Lebensmittel. Dies ist bereits die zweite Erhöhung innerhalb von zwei Jahren – am 1. Januar 2024 stieg die Steuer bereits von 20 auf 22 Prozent. In beiden Fällen begründete die von der rechtsliberalen Reformpartei geführte Regierung die Erhöhung der Abgaben mit Verteidigungsausgaben.

Ich habe keine Zweifel daran, dass die Verteidigungsausgaben erhöht werden müssen. Und ich denke, dass dies die Meinung der Mehrheit der Menschen in Estland ist. Wir fürchten einen Angriff Russlands. Aber auch die steigenden Preise für Lebensmittel, Energie und Medizin untergraben das Vertrauen in die Zukunft. Es ist eine Sackgasse, aus der kein Ausweg erkennbar ist.

Alexey Schischkin ist Journalist aus St. Petersburg. Seit der russischen Invasion in die Ukraine lebt und arbeitet er im Exil in Estland. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.

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