Tabakpolitik im Nationalsozialismus: An der Hungerschraube gedreht
Das Buch "Reemtsma auf der Krim" von Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham ist eine bestens belegte Studie über die deutsche Zigarettenindustrie im NS.
Behauptungen, dass der deutsche Nationalsozialismus sehr wesentlich ein auch von massiven Kapitalinteressen betriebenes Unterfangen war, wirken heute leicht altbacken. Viel stärker, so lesen wir, seien es ideologische Interessen, persönliche Habgier oder mangelnde Zivilcourage gewesen, die jene Diktatur und mit ihr das Verbrechen der Ermordung von 6 Millionen europäischer Juden und den Tod von mehr als 20 Millionen Sowjetbürgern ermöglichten.
Indes: Dass Kapitalinteressen im deutschen Faschismus eine treibende Rolle spielten, beweist die soeben erschienene, ebenso dramatische wie panoramatische, von Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham verfasste Studie "Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941-1944".
Die in zwölf Jahren intensiver und aufwändiger Quellenarbeit entstandene Studie stellt nicht weniger als eine beispielhafte, in jedem Punkt bestens belegte Fallstudie für eine Perspektive auf den Nationalsozialismus dar, die in ihm nicht nur ein politisches, sondern vor allem auch ein gesellschaftliches Koalitionsregime sieht. In diesem Koalitionsregime verbündeten sich gegensätzliche Kräfte, miteinander konkurrierende Eliten und um Kompetenzen rangelnde Institutionen der deutschen Gesellschaft zum tödlichen Nachteil von Dritten: von Juden, von Angehörigen besiegter Nationen und von kleineren Ethnien.
Adolf Hitler war bekanntlich Nichtraucher, und tatsächlich gab es in der NS-Zeit erste Ansätze zur Erforschung von Lungenkrebs, die schon damals den Genuss von Zigaretten als eine Hauptursache dieses Leidens kenntlich machten. Andererseits war die Zigarette nicht nur ein populäres Genussmittel, sondern auch eine akzeptierte, ja unverzichtbare Form des Drogenkonsums, zumal in Zeiten unablässig geforderter Aufmerksamkeit, also im Krieg. An Zigaretten und ihrem Konsum wurde im NS-Staat der Widerspruch von darwinistischer Gesundheitsideologie hier und Kriegsmotivation dort immer wieder ausgetragen.
Dafür stand beispielhaft der Tabakkonzern Reemtsma, der mit der Annexion Österreichs 1938 unter Druck geraten war: Sowohl aus "gesundheits-" als auch aus "sozialpolitischen" Gründen wollten Vertreter des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats die deutsche Tabakindustrie verstaatlichen. Umgekehrt wollte die deutsche Zigarettenindustrie auch und gerade in der "Ostmark" den Tabakhandel völlig privatisieren.
Indes: Dieser Schritt hätte in Österreich die treuesten Anhänger des Nationalsozialismus, die vom staatlichen Monopol lebenden "Trafikanten", um ihre Versorgungssicherheit gebracht, weshalb im Gegenzug die Parteikanzlei der NSDAP immer stärker die Überführung der privaten Zigarettenindustrie, namentlich des Reemtsma-Konzerns, in staatliches Eigentum ins Auge fasste. Als Reaktion auf diese Bestrebungen diversifizierte der Konzern zunächst seine Produktionspalette um Waschpulver und anderes.
Der Markt der "Ostgebiete"
Der Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion brachte schließlich die Lösung. Was im "Reich" kaum noch möglich war, nämlich große Gewinne zu erzielen, stellte sich in den nur drei Jahre aufrechterhaltenen, kurzlebigen Kolonien ganz anders dar. Die Firma Reemtsma erkannte schnell, dass in den eroberten "Ostgebieten" unter dem Schutz der Wehrmacht privates Wirtschaften uneingeschränkt möglich war.
Es war die Eroberung der Halbinsel Krim - seit langem eine ob ihrer klimatischen und geologischen Verhältnisse für den Tabakanbau geeignete Region -, die sowohl dem Zigarettenkartell seine Rendite als auch militärischer Front und Heimatfront die ausreichende Zufuhr der kriegswichtigen Droge Nikotin sicherte.
Dazu musste sich die Firma Reemtsma vor allem mit den zuständigen Stellen, in diesem Fall dem zuständigen "Wirtschaftskommando" der Wehrmacht, einigen. Als Ergebnis dieser Einigung zwischen Kapital und Armee wurde umgesetzt, was sich schon Hitler grundsätzlich in "Mein Kampf" als deutsches Kolonialregime in Russland vorgestellt hatte: Ansiedlung deutscher, "arischer" Bauern, intensive Ausbeutung der Arbeitskraft der ansässigen Bevölkerung durch gezielte Verknappung der Nahrungsmittel, also durch ein Drehen an der Hungerschraube, sowie die mittelfristige, durch Hungertod bewusst herbeigeführte Verminderung, das heißt Ermordung von Teilen der einheimischen Bevölkerung.
Hervorzuheben ist, dass es im Falle der Krim weder die NSDAP noch die SS waren, die die wirtschaftlichen Interessen des Konzerns schützten, sondern die Wehrmacht. Zu Recht schreiben die Autoren, dass der Konzern auf der Krim im Einklang mit einer "Militärdiktatur" wirkte; die Wehrmacht war es, die die Ermordung von Juden, Sinti und Roma sowie geisteskranken Menschen nicht nur duldete, sondern tatkräftig förderte, mörderische Repressalien gegen ganze Dörfer im Rahmen der "Partisanenbekämpfung" anordnete sowie unmenschliche, entwürdigende Todesstrafen gegen einzelne Personen verhängte.
Partei und SS spielten bei alledem nur die weltanschauliche und mörderische Begleitmusik: sei es, dass die "Einsatzgruppen" hinter der Front die Juden ermordeten, sei es, dass Mitarbeiter des SS "Ahnenerbes" oder Ideologen aus der "Reichsleitung" Alfred Rosenbergs pseudowissenschaftlich darüber spintisierten, ob und wie die Krim zur Zeit der Völkerwanderung die Heimat der selbstverständlich "arischen" Goten gewesen sei.
Zu recht diskret, aber deutlich genug erörtern die Autoren zwei weitere heikle Fragen, von denen eine seit der Publikation von Timothy Snyders "Bloodlands" die zeithistorische Debatte in Atem hält. Also die Frage nach einer "objektiven" Kooperation stalinistischer und nationalsozialistischer Ausrottungspolitik gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, zum anderen die Frage nach der Kollaboration eben auch in Gebieten der Sowjetunion.
Vorsichtig abwägend kommen Abraham und Roth zu dem Schluss, dass auf der von der Wehrmacht regierten Krim eine "parasitäre Ausbeutung" geherrscht habe, die "es den Okkupanten gestattete, nahtlos an die zentralisierten und auf unfreie Arbeitsverhältnisse getrimmten Produktionsverhältnisse [der stalinistischen Sowjetunion, M. B.] anzuknüpfen und sie nach der Einschaltung einer kollaborationsbereiten Mediatorenschicht effizient auszubeuten."
Gründe der Kollaboration
Nicht zu verhehlen ist auch, dass mindestens 30.000 Einheimische, darunter viele Angehörige der tatarischen Volksgruppe, im Bereich polizeilicher, administrativer und wirtschaftlicher und militärischer Tätigkeit kollaborierten. Man mag das als Reaktion auf die sowjetischen Zwangskollektivierungen der 1930er Jahre bewerten, kann aber nicht übersehen, dass ein krimtatarisch-muslimischer Nationalismus zumal bei der Judenverfolgung eine nicht unerhebliche Rolle spielte.
Im Übrigen kreuzten sich auch hier unterschiedliche weltanschauliche Interessen divergierender Instanzen des Dritten Reiches: Während das Auswärtige Amt, aber auch die SS auf die Herausbildung einer mit Deutschland verbündeten türkischsprachigen muslimischen Staatlichkeit setzten, war die Wehrmacht in diesem Fall zurückhaltender. Freilich wäre es falsch, die Ethnie der Krimtataren insgesamt der Kollaboration zu zeihen, zumal spätestens im November 1943 die von Hunger geplagte, unterworfene Bevölkerung der Krim unterschiedlich Widerstand zu leisten begann.
Das von der Firma Reemtsma unter dem Schutz der Wehrmacht auf der Krim errichtete Wirtschaftsregime stellte den nur vermeintlich paradoxen Fall eines auf stalinistischer Politik beruhenden Kapitalismus dar: Der Firma gelang es, so Roth und Abraham, "die unfreien Arbeitsverhältnisse der stalinistischen Ära in ihren Kernelementen - Kolonnenarbeit, Tagewerke, Normensysteme und Naturallohn - zu übernehmen und anschließend im Interesse der Qualitäts- und Leistungssteigerung zu modifizieren."
Roths und Abrahams bahnbrechende Studie zeichnet sich dadurch aus, dass keines ihrer Urteile einfach behauptet ist, vielmehr dürfte es nur wenige Untersuchungen geben, die alle ihre Behauptungen mit einer solchen, beinahe zu detailverliebten Sorgfalt belegen. Von den vorgesehenen Nahrungsmengen für unterschiedliche Gruppen von Zwangsarbeitern bis hin zu Organigrammen der deutschen Militärverwaltung - die Studie lässt keine Angabe unbelegt.
Sie stellt damit - über die pauschale "linke" Perspektive auf den Nationalsozialismus hinaus - nicht weniger dar als eine weitere, theoretisch begründete und vor allem empirisch gesättigte Untermauerung für Max Horkheimers Diktum, dass wer vom Kapitalismus nicht sprechen möchte, vom Faschismus schweigen soll.
Karl Heinz Roth, Jan-Peter Abraham: "Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherschaft 1941- 1944", Hamburg 2011, 576 Seiten, 39,90 Euro
Am Dienstag, den 18. Oktober stellt der Autor Karl Heinz Roth das Buch im Gespräch mit taz-Redakteur Klaus Hillenbrand in Berlin im taz-Café vor, 19.30 Uhr
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