TV-Dokumentation: Geschichten vom Berliner Rand
Ein Filmemacher hat ein Jahr lang vier arme Jugendliche aus dem Berliner Osten begleitet. Alle bekamen Hilfe von freien Trägern. Nicht alle konnten sie annehmen. Am Freitagabend läuft der Film auf Arte.
60 minus 6? Kathi nähert sich Zahl für Zahl der Lösung der Aufgabe. Das hübsche blonde Mädchen ist aber keine Erstklässlerin, sondern 18 Jahre alt. Kathi wirkt emotional wie eine Zwölfjährige. Sie kann nicht nur nicht rechnen. Sie ist auch nahezu Analphabetin.
Filmemacher Jens Becker hat Kathi und drei weitere Jugendliche, die zwischen Hellersdorf und Frankfurter Allee zu Hause sind und von freien Trägern der Jugendhilfe betreut werden, ein Jahr lang mit der Kamera begleitet. An diesem Freitag läuft der Film "Berliner Rand" auf Arte, am 16. September im rbb. Er ist harte Kost.
Kathis Eltern haben sich viele Jahre den Jugendämtern entzogen, indem sie etwa jedes halbe Jahr umgezogen sind. In den Schulen wurde das sensible und liebenswerte Mädchen gehänselt und geschlagen; sie war nicht in der Lage, sich zu wehren. Kathi hat 17 Geschwister aus 15 verschiedenen Beziehungen des Vaters. Sie musste immer auf irgendwelche Geschwister aufpassen und definierte sich ausschließlich darüber, für andere da zu sein. Für ihre Eltern existiert Kathi nicht als eigenständige Persönlichkeit. Die Kamera zeigt eine Familie, wo jeder einzeln am Tisch raucht oder Cola trinkt. Es gibt weder intellektuelle Reize noch Aufmunterungen.
In der Hellersdorfer "Arche" gab es für Kathi regelmäßige Mahlzeiten, und dort nahm sie auch mal jemand in den Arm. Sie bekam Hilfe bei den Hausaufgaben. Zur Versetzung reichte das Zeugnis zwar nicht, aber es war kein reines Sechserzeugnis mehr wie zuvor. Den Stolz konnte sie mit der Arche-Mitarbeiterin teilen, die viel Geduld für die junge Frau aufbringt.
"Der Film macht mich sehr glücklich, weil er genau die Realität zeigt, mit der wir täglich umgehen", sagt Manja Wienholz vom Verein "Die Kappe", dessen Arbeit ebenfalls dokumentiert wird. Der Film zeige das große Engagement der Mitarbeiter der Jugendhilfe. Er schildert aber auch, dass Angebote und Hilfesuchende nicht immer zusammenfinden; dass einige Jugendliche gar nicht in der Lage sind, die Hilfsangebote anzunehmen, die sie bekommen.
Zum Beispiel die Zwillinge Katja und Daniela. Anders als Kathi stammen die beiden 21-Jährigen nicht aus einer Hartz-IV-Familie, aber sie haben zu Hause Gewalt erlebt. Beide Mädchen haben einen Sprachfehler und sind nur schwer zu verstehen. Sie sind drogenabhängig, handeln möglicherweise auch mit Drogen und werden während der zwölfmonatigen Filmhandlung obdachlos. Filmemacher Jens Becker sagt, sie seien "entwurzelt und ohne Flügel".
Filmsequenzen zeigen Katja während einer Berufsvorbereitung als Hauswirtschaftshelferin. Die Schnitzel klopft sie mit einer Flasche statt mit dem Fleischklopfer, und das Salz schüttet sie händeweise darüber. Die Nonnen im katholischen Projekt "Manege" bringen viel Geduld mit ihr auf, doch Katja bricht die Ausbildung ab. Als die Kamera ihre hilflosen Blicke in einer Messe zeigen, die Kardinal Georg Sterzinsky hält, ihr Herumirren auf einem kirchlichen Friedhof im erzkatholischen Eichsfeld, wo sie Ausbildungsabschnitte absolviert, fragt sich der Zuschauer, ob so ein streng religiöses Milieu das Richtige für sie ist. Die Zwillingsschwestern gehören zu denjenigen Jugendlichen, die es wohl nicht schaffen werden.
Anders Volkmar Kevin, die Erfolgsgeschichte des Films. Der 16-Jährige zieht zu Beginn der Filmhandlung bei den Eltern aus in eine betreute Wohngemeinschaft des Vereins "Die Kappe". Ob es dort besser sei als zu Hause, will der Filmautor von dem antriebsschwachen Jungen wissen. Volkmar Kevin bejaht. Die Betreuer seien anders. Die Begründung klingt simpel: "Sie haken nach." Etwa, als er den Staub aus seinem Zimmer hinter das Sofa kippt statt in den Mülleimer. Sie helfen ihm auch, Bewerbungen für Schülerpraktika zu schreiben. Durch Zufall bekommt der gut aussehende Junge die Chance zu einem Casting als Model. Den Termin nimmt er nur wahr, weil die Betreuer ihn treiben. Volkmar Kevin kommt in die nähere Auswahl. Das Problem: Als Model müsste er Englisch lernen. Die Geduld dazu fehlt ihm. Zu einem zweiten Casting kommt es nicht. Aber dennoch: Volkmar Kevin beendet die Schule und beginnt eine Lehre als Lagerist.
Ganz bewusst wollte Filmemacher Jens Becker keine jungen Migranten zeigen. "Ich will diskutieren, dass Armut ein soziales Problem ist und kein ethnisches", sagt er.
Zurück zu Kathi: Bei einer Ferienfahrt der "Arche" kommt sie für drei Wochen in eine Schweizer Gastfamilie. Das ist eine liebevolle Mittelstandsfamilie. Kathi sieht Kühe auf der Alm und fragt, "warum die denn immer draußen stehen, es ist doch kalt". Sie genießt es, mit ihrer Gastfamilie gemeinsam Karten zu spielen. Beim Frühstück fragt sie die Gastmutter: "Essen deine Kinder immer was, bevor sie aus dem Haus gehen?" Es beginnt ein Dialog über deutsches und Schweizer Essen und schließlich ein Satz von Kathi, den man nur schwer ertragen kann: "Ich esse eigentlich gar nicht zu Hause."
Kurze Zeit nach den Ferien in der Schweiz hat Kathi ihre Familie verlassen. Sie lebt heute in einer kirchlichen Einrichtung, um Defizite aufzuarbeiten.
Der Film läuft an diesem Freitagabend um 22.35 Uhr auf Arte.
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