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TANGER - OFFENE STADT

Der Norden Marokkos, das ist der Sommer. Selbst im Winter ist es Sommer. Tanger empfängt alle verlorenen Seelen. Einfach so. Oder für drei Groschen in der Nacht...

Der Norden Marokkos, das sind die blauen Fenster, das strahlende Weiß der Mauern, der helle blaue Himmel. Das ist der Norden. Genau das. Du bist nicht mehr in der Ebene, du hast die unendliche Weite verlassen, um in die Täler zu tauchen und dich auf die Höhen der Berge zu schwingen.

Der Norden ist ein anderes Marokko. Mit einer lockeren Sprache, die sich von den heftigen und harten Tönen in Casablanca abhebt. Hier ist Marokko eindeutig, vollkommen klar. Hier sind selbst die Gesichter offen. Und das Meer ist so nah, so gegenwärtig. In Casa vergißt du diesen tobenden Nachbarn so schnell. Hier gibt sich die Stadt der Umarmung des Meeres hin und überläßt ihren Körper der ganzen Welt.

Du atmest tief ein. Die Beklemmung, die du im Innern Marokkos verspürst, legt sich. Deine Nerven entspannen sich. Du bist ruhig. Der Norden, das ist der Sommer. Selbst im Winter ist es Sommer. Und nicht nur wegen Sonne und Meer. Hier öffnest du dich mit Leib und Seele.

Du brauchst einen Hafen, um dieses Meer zu umarmen. Und dieser Hafen, das ist Tanger. Hier laden dich die Häuser ein. Die Häuser sind Häfen für verirrte Seefahrer, und die Bewohner öffnen für diese Reisenden ihre Lippen ...

Von allen Meeren der Welt kamen Schriftsteller hierher, um ihre Anker zu werfen. Pensionen, Hotels, Reisebüros, Reiseführer, Koffer und Kofferträger, alles kommt auf dich zu. Ruh‘ dich ein wenig aus von den Leuten, von dieser bunten Menge. Ruh‘ deine ermüdeten Beine aus, die den Körper dieser Stadt spürten.

Du hast Angst vor dieser Stadt-Frau, die du nur berühren kannst, ohne jemals in sie zu dringen. Aber du kannst sie nicht vergessen. Wie könnte man den „Souk ed-dakhili“ vergessen, diesen von Cafes umgebenen Platz. Balkoncafes. Cafeterrassen. Wo jeder sich kennt. Wie eine große verstreute Familie, die sich an diesem Ort verabredet hat. Allein für das Vergnügen, einige Worte zu wechseln, einige Bemerkungen über Vergangenheit und Zukunft. Tanger stöbert in seinem Gedächtnis. Unaufhörlich auf der Suche nach neuen Gesichtern und ungewöhnlichen Menschen. Ein alter Mann erbettelt den ganzen Tag einige Geldstücke. Nachts streckt er die Hand aus, du weißt, er will nichts von dir. Er gibt dir etwas.

Der Zufall, das Unbekannte, das Abenteuer. Leben die Bewohner Tangers nicht von Tag zu Tag oder von einem Moment zum nächsten? Auch dann, wenn sie manchmal ein wenig Kaffee in ihren Gläsern zurücklassen, um sich etwas später wieder setzen zu können. Nach kurzem Aufenthalt in einem anderen Cafe. Oder nach einem verschlafenen Vormittag. Dann werden sie woanders hingehen, um einige Sous zu verdienen, die sie in der Nacht verbraten. Die Nacht hat eine andere Farbe als das Geld. Die Farbe der wiedergefundenen Erinnerung, der nostalgischen Vergangenheit: des Hafens und des Meeres aus früheren Zeiten, als jeder nur gab.

Alles ist anders geworden. Das Elend bedrängt den armen Bewohner von Tanger mit dem so reichen Herzen. Aber es gibt ihn immer noch, er erzählt, er plaudert, ironisiert sein eigenes Schicksal und schaut dabei auf seine Kinder, die von lachenden Touristen einige Sous erbetteln. Von Tanger zu erzählen, das heißt, mit der Nacht zu schlafen. Wenn das Herz dem Meer sich öffnet. Wie der Hafen von Tanger in früheren Zeiten. Früher. Immer wieder früher.

Abdallah Zrika

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