Syrische Geflüchtete in der Türkei: „Wir haben Angst“

In İzmir leben 140.000 Syrer*innen. Viele Einheimische sehen sie als Gäste, die irgendwann wieder zurückkehren sollen – manche greifen die Geflüchteten an.

Im historischen Viertel Basmane betreiben syrische Geflüchtete Restaurants und Imbisse Foto: Sevda Aydın

Die Herbstsonne wärmt den belebten Stadtteil Konak in İzmir an der ägäischen Küste. Vor der Hatuniye-Moschee serviert ein Teeverkäufer dampfenden Tee, den die Anwohner*innen und Passant*innen unter den Palmen am Straßenrand trinken. Auf dem Flohmarkt vor der Moschee verkaufen arabisch sprechende Händler getragene Schuhe, Pullover, Mäntel und Hosen. Hier bietet İbrahim* an den Wochenenden sein syrisches Fladenbrot an und fährt mit seinem alten Minibus Gewürze und Konserven in verschiedene Stadtteile der Hafenstadt aus.

Der 27-jährige kam nach der Bombardierung seines Dorfes bei Aleppo vor fünf Jahren in die Türkei. Unter der Woche arbeitet İbrahim auf Baustellen und hat sich so das Geld für den gebrauchten Minibus zusammengespart. Viele syrische Geflüchtete kaufen bei ihm Brot, Gewürze und Konserven, die in Syrien produziert werden, und die es in der Türkei nicht gibt. Anders als auf anderen türkischen Wochenmärkten schreien die Verkäufer auf dem Platz in Konak nicht. İbrahim flüstert den Grund für die Stille: „Wir haben Angst.“

Anfang November wurde er auf seiner Tour angegriffen. Er erzählt, dass er durch eine enge Gasse musste, in der ein Wagen die Zufahrt blockiert hatte. Als er hupte, seien aus einem Wohnhaus plötzlich drei Männer gestürmt und hätten angefangen, ihn lauthals zu beschimpfen. İbrahim redete auf die Männer ein und versuchte den Streit nicht eskalieren zu lassen. Als sie sein arabisch gefärbtes Türkisch hörten, bedrohten sie ihn mit Baseballschlägern, die sie in dem geparkten Auto deponiert hatten.

Männer schleichen mit Messern um sein Haus

İbrahim schloss sich in seinem Minibus ein. Die Männer schlugen mit den Baseballschlägern die Motorhaube ein. İbrahim wählte die Nummer der Polizei, die zehn Minuten später vor Ort war. Bis zum Eintreffen der Beamten wuchs der Mob an. İbrahim vermutet, dass sich die drei Männer telefonisch Verstärkung geholt haben. Als die Polizisten endlich eintreffen, treiben sie zwar die Menge auseinander, nehmen aber keine Personalien auf. İbrahim wird zur Polizeistation gebracht und muss aussagen. Dort zeigt er die Angreifer an.

İbrahim ist sich sicher, dass er dem Angriff nur entkommen konnte, weil er die Polizei zu Hilfe rief. Aber die Angelegenheit hatte sich damit noch nicht erledigt. „Am nächsten Tag“, erzählt İbrahim, „bemerkte ich eine Gruppe von Männern, mit Hackbeilen und Messern bewaffnet, die um unser Wohnhaus schlichen. Das ging knapp eine Woche lang so. Wir hatten Angst und zogen vorübergehend zu Verwandten.“ Auch seine Nachbarn seien aus Angst eine Woche lang weder zur Arbeit noch zur Schule gegangen. „Ich kann den Grund für diese Feindseligkeit nicht verstehen“, sagt er unter Tränen.

Die knapp 3,5 Millionen geflüchteten Syrer*innen im Land leben ohne einen offiziellen Flüchtlingsstatus in der Türkei. Der inoffizielle Status „Gast“ bedeutet für die Ankommenden und Alteingesessenen, dass sich keine der beiden Seiten auf einen längeren Aufenthalt vorbereitet hat. Die Leistungen, die die Syrer*innen erhalten, sind lediglich wohlwollende Gesten des Gastgeberlandes. Ohne den offiziellen Status als Flüchtling ist es unmöglich, ein Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung und faire Arbeitsbedingungen zu beanspruchen.

Fake News über Syrer*innen

Der inoffizielle Status verhindert sowohl, dass die aufnehmende Gesellschaft die Flüchtlinge partizipieren lässt, als auch dass sich die Geflüchteten in die Gesellschaft integrieren können. Der Status als Gast könnte die Anfeindungen auch befeuern, da rechte Kräfte in der Gesellschaft sich im Recht wähnen, die vermeintlich ungebetenen Gäste anzugreifen und wieder wegzuschicken.

Vor allem in den sozialen Netzwerken sind Geflüchtete häufig das Ziel von Falschnachrichten, die sich rapide weiterverbreiten. So wird behauptet, dass syrische Staatsbürger*innen im Vergleich zu türkischen Staatsbürger*innen ohne Aufnahmeprüfung an jeder beliebigen Universität studieren könnten. Oder dass sie Sonderrabatte und finanzielle Hilfen vom Staat bekämen. Fragt man Muhammad Salih, Gründer des Vereins für Solidarität mit syrischen Flüchtlingen in İzmir, sollen diese Unwahrheiten vor allem eins vermitteln: ein falsches Bild über die syrischen Geflüchteten.

In Social Media-Beiträgen werden sie als überdurchschnittlich kriminelle Gruppe dargestellt, was laut den jüngsten Kriminalitätsstatistiken nicht der Wahrheit entspricht. Auch die populistischen Ausfälle von Politikern jeglicher Couleur tragen dazu bei, dass Rassismus gegenüber den Geflüchteten normalisiert wird. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan drohte 2017 am Rande des G20-Gipfels Politiker*innen der europäischen Länder damit, „die Grenzen aufzumachen und die Flüchtlinge mit Bussen (in die EU, Anm.d.Red.) zu senden“. Der Oppositionspolitiker Muharrem İnce (CHP) versprach vor den Parlamentswahlen im Juni 2018 im Falle eines Wahlsiegs, dass er „die Syrer zurückschicken“ werde.

Konflikte sind unvermeidbar

Muhammad Salih siedelte vor 18 Jahren aus Syrien nach İzmir über und glaubt, dass auch kleinste Auseinandersetzungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen sich durch solche Äußerungen schnell in tätliche Angriffe wandeln können.

In einem 2018 veröffentlichten Sonderbericht zur Lage der Syrer*innen in der Türkei spricht die parlamentarische Kommission der Bürgerbeauftragten (TBMM Ombusmanlık) allerdings nur vage Empfehlungen für die Integrationspolitik der türkischen Regierung aus: „Die Entwicklung einer Kultur des inneren Friedens und gemeinsamen Zusammenlebens zwischen dem syrischen und dem türkischen Volk ist von hoher Bedeutung. Ansonsten sind ernsthafte Spannungen und Konflikte in naher Zukunft unvermeidbar.“

2018 leben in der Vier-Millionen-Stadt İzmir nach offiziellen Angaben knapp 140.000 Syrer*innen. 2011, zu Beginn des Kriegs in Syrien, war der erste Ort ihrer Ankunft aus Syrien vor allem das historische Viertel Basmane. In den billigen Hotels lebten die Schlepper, in denen sie auch die Geflüchteten unterbrachten.

Von İzmir setzen viele über nach Griechenland. Diejenigen, die sich die Überfahrt nach Europa nicht leisten konnten, versuchten, hier Fuß zu fassen. Einige von ihnen betreiben nun rund um den zentral gelegenen Bahnhof von Basmane Restaurants und Imbissstuben mit arabischen Schildern. Süleyman, der Besitzer einer kleinen Konditorei, ist zwar zufrieden, gesteht jedoch, dass er Angst hat, „dass es auch in Basmane zu Angriffen kommt.“

Den Tabak rollen die Syrerinnen

Gleich hinter dem Bahnhof in Basmane befinden sich die Restaurants, und Läden der Alteingesessenen. Mustafa Korkmaz verkauft hier seit drei Jahren Tabak. In Urfa, im Südosten des Landes, gab es keine Arbeit für ihn. Den Tabak aus Urfa bietet er seinen Kunden lose oder als Zigaretten an. Diese werden von syrischen Frauen gerollt: Zehn Päckchen kosten fünf Lira, umgerechnet etwas weniger als ein Euro.

Der 39-jährige Korkmaz deutet mit den Händen auf das „syrische Stadtviertel“ am anderen Ende der Straße: „Die Leute dort haben die Taschen voller Dollars, aber sie essen die Suppe, die kostenlos ausgegeben wird. Sie betrügen uns alle. Sie sind der Grund warum unsere Leute hungrig und arbeitslos sind. Es ist ein Jammer für die Bürger dieses Landes.“

İbrahim räumt bei Einbruch der Dämmerung seinen Stand bei der Hatuniye-Moschee zusammen und macht sich auf den Weg, um seine Bestellungen abzuliefern. Während er auf den Tag der Gerichtsverhandlung wartet, denkt er an Syrien: „Wenn der Krieg endet, halten mich keine zehn Pferde mehr in İzmir. Dann kehre ich nach Aleppo zurück.“

*Name von der Redaktion geändert

Aus dem Türkischen von Tansel Acun Zengin

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Das finden Sie gut? Bereits 5 Euro monatlich helfen, taz.de auch weiterhin frei zugänglich zu halten. Für alle.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.