Eine Frau mit Kopftuch steht neben einem Tisch mit Kleidungsstücken

„Frauenrechte sind Menschenrechte“, sagt die syrische Ärztin Bayan Louis Foto: Daniel Kothöfer

Syrische Geflüchtete im Libanon:Flucht nach vorne

Im Libanon herrscht eine humanitäre Krise. Trotz allem versucht die Ärztin Bayan Louis, geflüchteten Frauen ein würdevolles Leben zu ermöglichen.

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Aus marj, taanayel und beirut, 23.5.2023, 14:20  Uhr

Der Staub legt sich beim ersten Schritt ins Camp auf die Lunge. Aber der Staub sei besser als Schnee, besser als Schlamm, sagen die Menschen, die hier leben. Es ist Ende April und endlich trocken im libanesischen Bekaa-Tal, wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt.

Beim Betreten des Geflüchtetencamps in Marj steht die Sonne auf dem höchsten Punkt, es ist Mittagszeit. Später im Jahr herrschen hier hohe Temperaturen, im Winter ist es nass und sehr kalt. Die Geflüchteten in der Region haben größere Probleme als das Wetter, doch blickt man auf die Planen und Bretterverschläge, ist klar: Diese Zeltbehausungen halten Überflutungen durch Regenstürme nicht stand und schützen nicht vor Minusgraden. Inmitten dieser Zeltlager zu leben, bedeutet, würdelos zu leben.

Aus jedem Zelt gucken gleich mehrere Köpfe. Sie gehören zu den rund 1,5 Millionen Syrer:innen, die aktuell im Land sind. Die Zahl der Menschen, die wegen des Bürgerkriegs seit 2012 in den benachbarten Mittelmeerstaat geflohen sind, beruht auf Schätzungen der libanesischen Regierung.

Die letzte Volkszählung im Libanon fand 1932 statt und der Staat hindert die Vereinten Nationen seit 2015 daran, die Sy­re­r:in­nen offiziell als Flüchtlinge zu registrieren. Nur rund 840.000 Geflüchtete aus Syrien sind beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR offiziell registriert, rund 300.000 sollen hier in der Bekaa-Region leben. Die aktuelle Situation im Libanon, so sagen NGOs, sei eine vergessene Krise. Denn der Weltgemeinschaft ist nicht klar, dass sich hier eine humanitäre Katastrophe abspielt. In einem Staat, der immer schärfer gegen Geflüchtete vorgeht.

Seit Sommer 2019 rutscht das kleine Land im Nahen Osten nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und Korruption immer tiefer in die Krise. Die Preise für Lebensmittel, Heizmaterial, Medikamente und Dinge des täglichen Bedarfs sind immens gestiegen.

Nach aktuellen Hochrechnungen der Weltbank steht der Libanon mit einer Inflationsrate von 352 Prozent bei Lebensmitteln an der Spitze der Länder mit den höchsten Preissteigerungsraten der Welt, die Rede ist von der „weltweit schwersten Wirtschaftskrise seit Mitte des 19. Jahrhunderts“. Das trifft die Ärmsten am härtesten: Laut UNO leben mittlerweile bis zu 80 Prozent aller Li­ba­ne­s:in­nen sowie 95 Prozent aller syrischen Geflüchteten im Libanon in Armut.

Noch im Eingangsbereich des Lagers wird es binnen Sekunden hektisch. Immer mehr Menschen kommen aus ihren Behausungen. Der Besuch der internationalen Presse im Rahmen der Kampagne #InDenFokus, die die Johanniter-Auslandshilfe zusammen mit rund 30 deutschen und internationalen Hilfsorganisationen ins Leben gerufen haben, ist sorgfältig geplant und seit Wochen beim Militär offiziell angemeldet.

Alle wissen, dass die Reise Aufmerksamkeit auf die alarmierende Situation im Land schaffen soll. An diesem Dienstagmittag wirbelt sie hier aber plötzlich doch zu viel Staub auf. Der Verantwortliche des Lagers, der „Shawishe“, findet deutliche Worte auf Arabisch. Das Camp ist sofort zu verlassen, yallah.

„Plötzlich teilte man uns mit, dass es eine neue Entscheidung der Regierung gibt, wonach alle internationalen Besucher:innen, die die Lager besuchen, eine Genehmigung des Verteidigungsministeriums benötigen. Das ist neu“, übersetzt Dr. Roy Abijoude von der Johanniter-Auslandshilfe. Der Druck auf die syrischen Flüchtlinge, in ihr Land zurückzukehren, werde in letzter Zeit immer größer, und die Regierung oder das zuständige Militär habe neue Gesetze oder Entscheidungen zu diesem Zweck getroffen, so Abijoude.

Seit April kann Sy­re­r:in­nen ihr Flüchtlingsstatus entzogen werden, falls sie das libanesische Staatsgebiet verlassen. Laut Hilfsorganisationen wurden seit Beginn des Jahres 1.500 Syrer festgenommen und mehr als 700 davon nach Syrien abgeschoben.

Die Ak­teu­r:in­nen der humanitären Hilfe sind sich ei­nig: Im Libanon wird Flucht bekämpft, indem die Geflüchteten bekämpft werden. Menschen, die eh schon am Boden liegen. Durch die Aufnahme Syriens in die Arabische Liga könnte sich die Lage verschärfen. Besonders syrische Geflüchtete, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben, befürchten, dass es durch die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu mehr Abschiebungen kommen wird.

Der Libanon befindet sich im freien Fall. Die Bildung einer neuen Regierung ist bislang an innenpolitischen Machtkämpfen gescheitert. Die politischen Spitzenposten werden unter den wichtigsten konfessionellen Gruppen des Landes aufgeteilt, die sich gegenseitig bekämpfen. So soll Prä­si­den­t:in immer Christ:in, Re­gie­rungs­che­f:in Sun­ni­t:in und Par­la­ments­prä­si­den­t:in Schii­t:in sein. Die politische Elite schachert sich seit Jahrzehnten gegenseitig die Posten zu und bereichert sich so auf Kosten der Bürger:innen. Eine besonders einflussreiche Rolle spielt die mit dem Iran verbündete schiitische Hisbollah, die über eine eigene Miliz verfügt.

Dr. Bajan Louis, 30, zupft sich das schwarze Kopftuch zurecht, fasst kurz mit beiden Händen an ihren Mantel und zieht daran, als wolle sie mit ihrer Kleidung sagen: Weiter geht’s, nicht aufhalten lassen. Die Ärztin hat als Projekt-Koordinatorin der Organisation „Multi Aid Programs“, kurz MAPS, den Pressebesuch im Camp vor Ort vorbereitet. Sie verzieht keine Miene, bleibt professionell und sachlich, während sie den Besuch raus aus dem großen Eisentor führt. Sie kennt diese Schikanen wohl zu gut. Denn genau wie die meisten Frauen in diesem Camp kommt sie aus Homs, der drittgrößten Stadt Syriens, 145 Kilometer von Marj entfernt.

Eine Frau steht in einer Nähwerkstatt

In der Werkstatt werden unter anderem wiederverwendbare Binden genäht Foto: Foto: Daniel Kothöfer

Sie selbst musste im Libanon 2017 ganz von vorne anfangen, in einer staubigen Zeltstadt. Dr. Bayan Louis hat noch ein Jahr nach dem Studium als Assistenzärztin in Syrien gearbeitet, startete gerade den Bewerbungsprozess für die Fachärztinnen-Ausbildung in Deutschland, als sie beschloss, ihren Traum hinten anzustellen. „Meine Familie befand sich im Libanon in einer sehr schwierigen Situation. Sie konnten sich nicht einmal Brot leisten. Ich wollte nicht egoistisch sein, also kam ich zum Arbeiten und unterstützte sie.“

Dr. Louis zog ins Zelt zu ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihrer Großmutter. Als Ärztin durfte sie im Libanon nicht arbeiten, aber sie meldete sich zum Freiwilligendienst in den Lagern, vermittelte zwischen den Geflüchteten und den Hilfsorganisationen, startete Feldstudien und klärte die Sy­re­r:in­nen über Gesundheitsvorsorge auf.

Durch ihr Fachwissen, ihr Verständnis für die Situation und Kultur der Sy­re­r:in­nen und ihr Durchhaltevermögen machte sie sich innerhalb eines Jahres unabdingbar für lokale Organisationen: 2018 bekam sie dann durch die internationale Organisation von MAPS einen festen Arbeitsvertrag und konnte mit ihren sieben Familienmitgliedern in ein kleines Apartment ziehen. „Manchmal schaue ich in die Augen meiner Eltern und sehe die Tränen darin. Sie wollen mich an einem besseren Ort sehen, an einem angenehmeren Ort. Aber wegen all dem Druck, den ich erfahren habe, behalte ich diese Energie, um für andere aufzustehen“, sagt sie.

Female Empowerment Programs, so werden die zahlreichen Aktionen für die Stabilisierungen von weiblichen Geflüchteten, die Bayan bei MAPS eingeführt hat, genannt. „Frauenrechte sind Menschenrechte und ich bin dafür da, diese Rechte zu verfechten. Meine syrischen Schwestern brauchen Perspektiven, ich möchte, dass es jüngere Mädchen einmal leichter haben, als ich es hatte“, lautet ihr persönliches Manifest.

Es heißt, in Krisen sind Frauen oftmals stärker getroffen – auch der Blick auf die Situation im Libanon bestätigt das: „Der soziale Impact von Krisen, der von der klassischen politischen und wirtschaftlichen Analyse nicht thematisiert wird, trifft Frauen disproportional stark“, sagt Luise Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe und Schirmherrin von #IndenFokus. Ein Beispiel dafür sei die Versorgungslage in den Lagern, das entnehme sie auch dem diesjährigen Bericht „Breaking the Silence“ der Organisation Care.

Der habe noch mal in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Frauen in solchen Situationen viel weniger essen als ihre Angehörigen, weil sie sichergehen möchten, dass ihre Familien versorgt sind, so Amtsberg. Außerdem würden die syrische Frauen in der Landwirtschaft für einen Hungerlohn arbeiten – oft ohne Pausen oder Verträge und verdienen nur halb so viel wie Männer. Laut der Weltbank stellen sie 43 Prozent der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.

Ortswechsel, Hauptquartier von MAPS in der Stadt Taanayel. Hier zeichnet sich über drei Stockwerke ein anderes Bild von Geflüchteten: Die Räume sind mit Leben und Möglichkeiten gefüllt. In einem sitzt eine Runde Frauen gesellig bei der Häkelarbeit für den hauseigenen Online-Shop zusammen. In einem anderen Zimmer pinseln junge Mädchen an Acryl-Leinwänden an ihrer Zukunft. Und in der Nähwerkstatt surren die Maschinen und eine Handvoll Frauen sitzt konzentriert an bunten Stoffen.

Gehäkelte Schlümpfe, Flamingos , Pilze sind in einem Regal aufgehängt

Gemeinsam Häkeln: In der Nähwerkstatt in Taanayel helfen sich Sy­re­r:in­nen gegenseitig Foto: Foto: Daniel Kothöfer

Die Arbeit hier stützt sich auf vier Säulen: Gesundheit, Bildung, Weiterbildung und Gemeindearbeit. „Wir vermitteln hier die Hoffnung und die notwendigen Fähigkeiten, damit sie in Würde leben können, bis sie in ihr Heimatland zurückkehren und am Wiederaufbau teilnehmen können. Es geht um die Hilfe von Sy­re­r:in­nen für Syrer:innen“, sagt Dr. Bayan Louis.

Die Frauen im Land haben mit vielen sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Problemen zu kämpfen. Vor allem, seit der Libanon 2019 durch die Finanzkrise, Covid-19 und die Explosion am Hafen Beiruts kollabiert – am 4. August 2020 zerstörte eine Explosion weite Teile der libanesischen Hauptstadt, etwa 200 Menschen starben, bis zu 300.000 wurden obdachlos. Die Lebensumstände wurde von Jahr zu Jahr schwieriger: „Syrische Flüchtlingsfrauen leiden unter der Finanzkrise, den Lebensbedingungen, der Unmöglichkeit, ihre im Libanon geborenen Kinder registrieren zu lassen, der Unfähigkeit zu arbeiten, während sie ihren Haushalt und ihre großen Familien führen“, umreißt Mireille Georr von Malteser International. Ihr Kollege von der Johanniter-Auslandshilfe, Dr. Roy Abijoude, ergänzt: „Viele der Frauen waren gezwungen, die Führung in der Familie zu übernehmen und anstelle ihrer Ehemänner, die getötet wurden, immer noch im Krieg sind oder ihre Familien verlassen haben, die Ernährerinnen zu werden.“

Dr. Louis spricht auch stigmatisierte Themen an, versucht diese vermehrt in den verschiedenen Aufklärungsprogrammen anzugehen. So erzählt sie zum Beispiel von den Problemen der Frühverheiratung, Zwangsverheiratung und häuslicher Gewalt. Laut einer Erhebung des Kinderhilfswerks Unicef 2021 sind rund 40 Prozent der syrischen Mädchen unter 19 Jahren bereits verheiratet. Auch hier wird wie bei den meisten Schätzungen, die den Libanon betreffen, die Dunkelziffer deutlich höher vermutet. Repräsentative Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt gibt es nicht, da diese Themen zum einen mit viel Scham verbunden sind und zum anderen die Aufklärung fehlt, das Unrecht als solches zu erkennen.

Den Sy­re­r:in­nen schlägt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene eine immense Welle von Hass, Diskriminierung und Dehumanisierung entgegen

„Die zunehmende Stigmatisierung in der Öffentlichkeit syrischer Geflüchteter trägt dazu bei, dass syrische Kinder nicht mehr zur Schule gehen, kranke Menschen keine Krankenhäuser mehr aufsuchen und die Menschen ausschließlich im Lager bleiben. So kommt es zu einer Abwärtsspirale für Frauen in den Lagern, die durch Themen wie häusliche Gewalt noch einmal verstärkt wird“, sagt Luise Amtsberg. Mehrere Lagen bunter Stoff, es ist ein kleines Paket aus abwaschbarem Textil, das Dr. Louis der Reisegruppe aus Deutschland nun bei MAPS entgegenstreckt. In diesen Räumen habe sie das Nähen von wiederverwendbaren Binden eingeführt. In einem Land wie Libanon und in dem Traditions-, Religions- und Kulturverständnis vieler Sy­re­r:in­nen ist das eine große Sache.

Teure Hygieneprodukte

„Viele Mädchen und Frauen in den syrischen Flüchtlingslagern können sich aufgrund der rasant gestiegenen Preise keine Monatshygiene mehr leisten“, sagt Dr. Louis. Sie haben sich deshalb während ihrer Menstruation einfach Stoff in die Unterhose gestopft. Das habe zu vielen Infektionen geführt. Andere haben während ihrer Tage aus Scham kaum ihre Hütten und Zelte verlassen, so die Ärztin. Darum haben sie auswaschbare und wiederverwendbare Damenbinden entwickelt und 15.000 Stück kostenlos verteilt. „Anfangs gab es viel Widerstand, auch wegen des Stigmas der blutenden Frau, die ihre Monatswäsche nicht sichtbar an der Wäscheleine zum Trocknen hängen will. Wir müssen hier noch viel Aufklärungsarbeit betreiben. Aber es ist ein Erfolg.“

Der Medizinerin wird vertraut, weil sie die Kultur, die Sprache und die Fluchtbiografie mit den Be­woh­ne­r:in­nen der Lager teilt: Dr. Louis hat zwischen Bombenalarm und Militärkontrollen die Universität in Homs beendet, obwohl ihre Familie schon längst geflohen war. Anfang Mai 2014 wurde die Stadt im Westen Syriens von Regierungstruppen eingenommen, dann galt sie lange Zeit als Hauptstadt der Rebellen, bevor sie 2016 schließlich kapitulierten.

Ein Jahr bevor Bayan den Abschluss in der Hand hält und ihrer Familie in den Libanon folgt, wird ein mehrheitlich von Alawiten bewohnter Stadtteil von Homs das Ziel einer Reihe von Anschlägen von Isis. „Immer wieder mussten wir uns fünf oder sechs Stunden in der Uni verschanzen, weil wir wegen der Schusswechsel nicht sicher nach Hause kamen. Es war sehr gefährlich, dort zu sein. Ich wusste aber, dass ich ohne Ausbildung und ohne Abschluss auch keine Zukunft haben werde.“ Ihre Zukunft hatte sie sich jedoch anders vorgestellt.

Den Sy­re­r:in­nen schlägt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene eine immense Welle von Hass, Diskriminierung und Dehumanisierung entgegen. Mit rund 1,5 Millionen syrischen und rund 250.000 palästinensischen Flüchtlingen ist der Libanon laut UNHCR das Land mit dem weltweit höchsten Anteil an Geflüchteten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Die Infrastruktur ist mit dem Ansturm überfordert, die Geflüchteten werden für den miserablen Zustand des Landes verantwortlich gemacht. Angestachelt wird das Klima von der libanesischen Regierung, die ihre ultranationalistische und rassistische Politik offenlegt.

„Libanesische Politiker nutzen syrische Geflüchtete zunehmend als Sündenbock, um von ihren eigenen Verfehlungen abzulenken. Eine besonders perfide Argumentation ist, dass die vielen muslimischen Geflüchteten die gesellschaftliche und religiöse Balance des Landes ändern würden“, sagt Luise Amtsberg. Die Folge sind Demos gegen Geflüchtete, immer neuen Regulierungen, damit diese nicht sesshaft werden. Auch Zwangsabschiebungen und Militär-Schikane mit unangemeldeten Razzien in den Camps gehören zum Alltag der Geflüchteten. Sy­re­r:in­nen dürfen zudem keine permanenten Häuser bauen, kaum offiziell arbeiten. Die meisten arbeiten illegal im Niedriglohnsektor in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Gastronomie.

„In letzter Zeit spielen die Medien hier eine große Rolle, wenn es um das Klima gegen Geflüchtete geht“, sagt Dr. Roy Abijoude von der Johanniter-Auslandshilfe. Mehrere Fernsehsender und soziale Medien berichten über die alarmierende und gefährliche Zunahme der syrischen Geflüchteten und vermitteln den Eindruck, dass sich besser um die Sy­re­r:in­nen als um die eigene Bevölkerung gekümmert wird, so der Arzt. Zudem wird das Narrativ verbreitet, dass die Geflüchteten medizinische und finanzielle Hilfe von der UNO und NGOs erhalten, während die Aufnahmegesellschaft nicht ausreichend unterstützt wird und in einer sehr schlechten wirtschaftlichen Lage leben muss. Dr. Bayan Louis versteht den Frust und die Not der Libanes:innen, doch die Geflüchteten dafür zu beschuldigen, hält sie für inakzeptabel.

Immer häufiger kommt es zu offenen Anfeindungen, gar Übergriffen auf die syrischen Mitmenschen. In den sozialen Medien findet man schnell Handyvideos, die Gewaltakte auf offener Straße zeigen. Auch von angeblich mutwilliger Brandstiftung in den Camps ist auf Seiten der Sy­re­r:in­nen die Rede. „Weil es in den Lagern so eng ist, springen die Flammen schnell auf andere Zelte über, ganze Lager können so abbrennen“, sagt die Syrerin Abir Raad, 37, die als einzige Frau der Freiwilligen Feuerwehr im Lager in Arsal beigetreten ist. Dadurch, dass die Geflüchteten Zelte und Hütten mit Öfen beheizen und auf Feuer kochen, komme es auch immer wieder zu Feuern. Die libanesische Feuerwehr kommt nicht immer und wenn, viel zu spät. „Deshalb helfen wir uns selbst“, sagt Abir.

Ausgerüstet mit Eimern, feuerfester Kleidung, Helmen und Schutzbrillen, die sie von einer niederländischen Firma gesponsert bekamen, fühlt sich die Syrerin endlich wieder nützlich. Die Arbeit sei gefährlich, aber es sei das, was Abir nach ihrer Depression wieder Selbstbewusstsein gegeben hat. Sie träumt davon, irgendwann mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann nach Homs zurückzukehren, dann möchte sie auch in Syrien Feuerwehrfrau werden.

Dr. Louis stellt noch mehr Frauen vor, die endlich wieder eine Perspektive haben: auf einen offiziellen Job, auf körperliche Unversehrtheit, auf eine Zukunft. „Bei allen Hürden und Gefahren, die ich überwinden musste, habe ich große Hoffnung. Vor allem, wenn ich mir die jungen Mädchen hier anschaue. Ich mache das vor allem für die jüngere Generation, damit sie ein Leben der Selbstbestimmung vor sich haben“, sagt sie.

30 Euro für Windeln

Hoffnung sitzt auch im Warteraum des Gesundheitszentrum Chiyah, Ain El Remmaneh am Rande von Beirut. Die moderne, weiße, fast schon steril wirkende Vorhalle ist gefüllt mit Menschen, mit Einzelschicksalen, mit verschiedenen Krankheitsbildern – aber mit einer Gemeinsamkeit: Medikamente und Arztbesuche können sie sich mittlerweile alle außerhalb des Centers des libanesischen Malteser-Ordens nicht mehr leisten. Auf fünf Stockwerken werden alle medizinischen Fachrichtungen abgedeckt und kostenlos oder gegen eine symbolische Gebühr angeboten, ein von der WHO empfohelenes Programm.

Die Syrerin Dalal, Anfang 30, trägt ein buntes Kopftuch und ist mir ihren beiden Kindern, die am Zipfel ihres Kleides hängen, in dem Zentrum. Sie hat eine fünfjährige Tochter mit Behinderung, die noch Windeln tragen muss, und einen Sohn mit Zahnschmerzen. „Ohne dieses Center wüsste ich nicht, was ich tun würde. Bevor mir das Gesundheitszentrum Windeln gab, habe ich Tücher für meine Tochter benutzen müssen, und auch Milch für meine Kinder konnte ich mir nicht leisten. Ich bin so dankbar für diesen Ort, schreiben Sie das auf!“, sagt sie.

500.000 libanesische Lire kostet heute allein eine Packung Windeln, das sind umgerechnet 30 Euro. Ihr Mann, der die ganze Familie versorgt, hat ein Monatsgehalt von knapp 120 Euro. Doch nicht nur die kostenfreie medizinische Behandlung und Versorgung mit Hygieneartikeln ist an diesem Ort besonders. Sondern auch der Fakt, dass Dalal hier mit Respekt behandelt wird. „Wir haben hier im Land keine Rechte und werden ständig gedemütigt. Aber hier ist die Herkunft und die politische Haltung egal.“ Das oberste Ziel des libanesischen Malteser-Ordens sei, „den Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen und ihre Grundbedürfnisse zu sichern“, fasst Mireille Georr von Malteser International zusammen. Unabhängig von Religion, Hautfarbe oder Ethnie.

Würde. Was bedeutet das in einem von Krisen gebeutelten Land? Fast alle Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen verwenden das Wort, mal als Ausdruck der Sehnsucht, mal aus Kummer, mal als Mantra oder als Beschreibung der vergangenen Tage. Kauen auf ihm. „Würde“, das scheint hier wie ein Kaugummi zu sein, der den Geschmack verloren hat.

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