Syrische Flüchtlinge in Ägypten: Risiko für Leib und Leben
Eine Gruppe syrischer Flüchtlinge, die von Ägypten nach Europa wollen, werden von der Küstenwache gestoppt. Jetzt hausen sie in einer Polizeistation.
ABUKIR taz | „Haste mal ein Pfund für einen Platz auf einem Boot nach Italien?“, fragt ein alter einäugiger Mann mit Gehstock, Turban und Rauschebart und grinst ins Autofenster. Im heruntergekommen ägyptischen Küstenort Abukir haben selbst die Bettler ein genaues Ziel vor Augen.
Abukir ist der Ausgangspunkt syrischer Flüchtlinge für die Überfahrt nach Europa. Bis zu 4.000 Dollar zahlen sie für einen Platz auf einem der Boote, erzählt Abdou, der am Strand einen kleinen Kiosk betreibt. Meist stechen die Boote nachts in See, vollgeladen mit über 200 Menschen, mit ein paar kleineren Booten im Schlepptau.
Auf diese werden die Flüchtlinge kurz vor Italien umgeladen und dann heißt es nur noch „immer geradeaus geht es nach Europa,“ erklärt Abdou. „Wer ersäuft, der ersäuft eben, wer ankommt, kommt an und wer festgenommen wird, der wird halt festgenommen. Die Schlepper gewinnen immer“, sagt Abou.
Zwei Tote und ein Verletzter bei Schüssen auf das Boot
Auch am 17. September stach ein Boot mit 240 Flüchtlingen in See. Sie kamen nicht weit. Die ägyptische Küstenwache forderte das Boot zum Anhalten auf. Die Schlepper fuhren trotzdem weiter. Die Küstenwache feuerte auf das Boot. Zwei der Flüchtlinge an Bord wurden erschossen, einer schwer verletzt. Dann hielt das Schiff doch an, die menschliche Fracht wurde zurück an Land gebracht.
„Ägypten macht die Drecksarbeit für die europäischen Staaten, die ein härteres Vorgehen gefordert haben, die Flüchtlingswellen über das Meer zu stoppen“, sagt der ägyptische Menschenrechtsanwalt Ahmad Nassar. In den vergangenen zwei Monaten wurden fast 1.000 Flüchtlinge festgenommen, erzählt er.
Ein Teil jener, die die Schicksalsfahrt am 17. September überlebt haben, befindet sich in der kleinen Polizeistation in Abukir. Gut hundert Flüchtlinge, darunter 40 Kinder, werden dort festgehalten. Nach längerem Verhandeln öffnet ein Polizeioffizier das Vorhängeschloss, mit dem das Tor zugekettet ist.
Auf der Wache herrscht die Atmosphäre eines Flüchtlingslagers
Er ist hin- und hergerissen. „Das könnte Ärger für mich geben, aber diese Menschen brauchen Hilfe. Bitte schreib über sie, damit die Europäer verstehen, was hier los ist,“ sagt er.
Auf der Wache herrscht die Atmosphäre eines Flüchtlingslagers. Eines der Zimmer dient den Frauen und Kindern als Unterkunft, ein anderes den Männern. Statt Schreibtischen - ein großes Matratzenlager. Muntazir ist so etwas wie der Sprecher der Flüchtlingsgruppe. Er zeigt ein Video auf einem Handy. Dort ist jener Moment nach dem Beschuß festgehalten. In den Augen der Flüchtlinge an Bord ist die Panik sichtbar. Immer wieder schwenkt das Handy auf die beiden Leichen, ein Mann und eine Frau. Ein Foto zeigt die beiden Toten, auf die Eisblöcke gelegt wurden, damit sie in der Hitze nicht verwesen.
„Wir wussten, dass die Überfahrt gefährlich ist, aber bei uns ist es noch gefährlicher“, sagt Muntazir. Der 35-Jährige ehemalige OP-Helfer ist alleine hier. Seine Frau und seiner Tochter sind noch in Damaskus, auch wenn ihr dortiges Haus im Palästinenserviertel Yarmuk inzwischen zerstört ist. „Meine 12-jährige Tochter hat aus Angst vor den fast täglichen Bombardements inzwischen wieder begonnen, ins Bett zu machen“, sagt er.
Der einzige Weg nach Europa führt illegal über das Meer
Weil er nicht genug Geld für die Überfahrt für die gesamten Familie hatte, haben sie beschlossen, dass er die Überfahrt als Erster wagt, um später seine Familie nachzuholen. Die Überfahrt vom Libanon kostet das Doppelte, daher ist er nach Ägypten gekommen. „Man gibt uns in Europa nur einen Flüchtlingsstatus, wenn wir es schaffen, dort anzukommen, aber wie sollen wir ankommen, wenn nicht illegal übers Meer“, sagt er.
Alaa, ein anderer Flüchtling, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf der Wache ist, erzählt, dass er wenige Tage vor der Reise mit seiner Familie noch bei der österreichischen Botschaft in Kairo war. Er wollte seinen Fall präsentieren, in der Hoffnung, aufgenommen zu werden. Sie kamen nicht einmal am Sicherheitsbeamten vor der Tür vorbei. „An diesem Tag haben wir beschlossen, es illegal übers Meer zu versuchen“, sagt er.
Laut dem Menschenrechtsanwalt Nassar geht das Problem auch von Europa aus, denn „die Europäer geben den syrischen Flüchtlingen kaum die Möglichkeit, auf legale Weise zu kommen. Gerade Italien und Deutschland üben Druck auf Ägypten aus.“ Die Lösung? „Mehr Flüchtlinge offiziell in Europa aufnehmen und den Nachbarländern Syriens bei deren Aufnahme helfen“, sagt er.
Der 13jährige Ibrahim hat seine Mutter verloren
Den Menschen auf der Polizeistation in Abukir werden die Ägypter anbieten, auszureisen - ohne Deportationsstempel im Pass, in ein Land ihrer Wahl. Die einzig möglichen Länder: Syrien, aus dem sie geflohen sind, oder der Libanon. Letzterer muß jetzt schon eine große Zahl von Flüchtlingen verkraften. Laut Schätzungen könnten bis Ende des Jahres 40 Prozent der Bevölkerung im Libanon aus syrischen Flüchtlingen bestehen. Auf Deutschland umgerechnet wären das 32 Millionen Flüchtlinge.
In der Ecke auf der Wache sitzt der 13-jährige Ibrahim und starrt ins Leere. Es war seine Mutter, die auf dem Boot erschossen wurde – direkt neben ihm. Das erzählt er, fast mechanisch. Auch dass er neben ihr saß und weinte. Jetzt hat er hier nur noch seinen 21-jährigen Bruder. Die beiden durften die Wache einmal kurz verlassen – um die Mutter auf einem Friedhof in Abukir zu begraben.
Wenn Ibrahim vor einem sitzt, weiß man schnell nicht mehr, was man ihn eigentlich fragen soll, zu offensichtlich ist sein Schmerz. Was er denn in Europa am liebsten gemacht hätte, wenn er, sein Bruder und seine Mutter dort angekommen wären? „Mein größter Wunsch war, dort einfach wieder in die Schule zugehen“, antwortet er kurz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr