Syriens Kurden stimmen ab: Zur Wahl steht ein neues System
Unabhängig von Präsident Baschar al-Assad finden im Nordosten des Landes lokale, regionale und nationale Wahlen statt.
Abduwaheb betreibt bereits seit einigen Wochen Wahlkampf, nicht für eine Partei, nicht für sich, wie er sagt, sondern für die Wahlen an sich. „Als im Juli 2012 die Revolution losging, wer hätte da gedacht, dass wir heute hier stehen und offen für ein demokratisches System werben können“, sagt Abduwaheb. „Bei diesen Wahlen geht es nicht um irgendwelche Köpfe, es geht darum, ein System zu wählen“.
Es ist ein Wahlkampf ohne Gesichter, in den Straßen hängen lediglich Aufrufe zur Wahl und Werbung für Parteilisten. „Wir müssen den Leuten klar machen, wie wichtig diese Wahlen sind. Jahrzehntelang gab es keine Demokratie in Syrien, das ist ein großer Schritt“, betont der Familienvater.
Nachdem sich das Assad-Regime 2012 weitestgehend aus Rojava, wie die Kurden den Norden Syriens nennen, zurückgezogen hatte, bildete sich schnell ein Netz aus basisdemokratischen Räten, Kommissionen und Kooperativen. Abduwaheb ist in seiner Kommune, wie Nachbarschaften mit einer Anzahl von meist 100 Haushalten bezeichnet werden, im Volksrat aktiv. „Wir kümmern uns dort selbst um alles, was so anfällt, von der Wasserversorgung bis zu Sanierung der Schule.“
Kurden streben keine Abspaltung von Syrien an
Für verschiedene Lebensbereiche sind in der Kommune unterschiedliche Kommissionen zuständig. Wenn es zu Konflikten kommt, werden sie, soweit möglich, von einem Konsenskomitee gelöst. Eine Wirtschaftskommission kümmert sich um den Aufbau von Kooperativen.
Doch längst nicht alle gesellschaftlichen Probleme lassen sich auf kommunaler Ebene lösen, weswegen die Wahlen abgehalten werden. Bei der Wahl am 1. Dezember traten in der Region Kamischli Vertreter von 26 Parteien an, die zwei Listen bildeten, eine eher links und eine kurdisch-nationalistische. Der Volkskongress, der im Januar gewählt wird, soll 300 Mitglieder haben, darunter mindestens 150 Frauen.
Hediye Yusuf
Im Gegensatz zu dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum im Nordirak streben die syrischen Kurden jedoch keine Loslösung von Syrien. Auch Abduwaheb antwortet auf eine entsprechende Frage mit einem klaren Nein. „Die Idee des Nationalstaates hat zu Assimilierung, Vertreibung und Völkermorden geführt. Die Idee des Nationalstaates bedeutet Vereinheitlichung, aber der Nahe Osten ist bunt. Es muss deshalb darum gehen, die zentrale staatliche Macht durch demokratische selbst verwaltete Strukturen zu ersetzen.“
Die ideologische Grundlage des Systems der Demokratischen Föderation basiert auf dem Konzept des inhaftierten Mitbegründers der Kurdischen Arbeiterpartei in der Türkei (PKK), Abdullah Öcalan. Sein Gesellschaftsentwurf des Demokratischen Konföderalismus sieht eine Vielzahl direktdemokratischer Strukturen vor, die sich unter einem gemeinsamen Dach zusammenschließen.
Nicht alle unterstützen das neue politische System
Doch die Umsetzung stößt auch auf Probleme. Nicht alle akzeptieren das politische System, zumal es unter den Kurden Rojavas auch Anhänger von Masud Barsani, dem autokratischen Regierungschefs der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, gibt.
Viele Barsani-Anhänger verweigern die Teilnahme an den Versammlungen der Kommunen und Räte, plädieren für einen Kurdenstaat und eine enge Anbindung an die USA und andere westliche Mächte. Mit der KDP-S (Kurdisch-Demokratische Partei-Syrien) hat Barsanis Partei auch einen Ableger in Rojava. Die Konkurrenz zwischen dem System Rojavas und dem Barsanis geht derweilen so weit, dass Letzterer immer wieder Embargos über die Demokratische Föderation Nordsyrien verhängt.
Auch ethnische Spannungen sind in Rojava nach wie vor nicht vollständig ausgeräumt. Teile der arabischen Bevölkerung stehen dem System nach wie vor skeptisch gegenüber. Gerade arabische Großgrundbesitzer fürchten um ihr Land. Hafes al-Assad, der verstorbene Vater von Präsident Baschar al-Assad, beschloss 1965 den Aufbau eines „arabischen Gürtels“: In einem 15 Kilometer breiten Gebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze wurden systematisch arabische Familien angesiedelt und kurdische Familien vertrieben.
Manche Araber treibt nun die Angst um, dass es ihnen genauso ergehen könnte. Doch bisher kam es weder zu Vertreibungen noch zu Enteignungen, wie ein Bericht des UN-Menschenrechtsrats vom März 2017 belegt. Ob die arabische Bevölkerung das neue System inzwischen akzeptiert, wird ihre Beteiligung an den Wahlen zeigen.
Quoten nach Geschlecht und Minderheit
Derzeit hat der Wahlkampf die Stadt Kamischli fest im Griff. In jedem Viertel finden Veranstaltungen statt. Doch der Krieg ist trotz aller Wahleuphorie nach wie vor allgegenwärtig. Abdulkerîm Abduwaheb streicht über das Display seines Smartphones, das Hintergrundbild zeigt einen seiner Söhne, er fiel vor dreieinhalb Monaten bei der Schlacht um Rakka. Die Front verläuft rund vier Autostunden südlich von Kamischli.
Hediye Yusuf ist Kopräsidentin des 31-köpfigen konstitutiven Exekutivrats der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Kritikern zufolge wird der Rat jedoch von der Partei der Demokratischen Einheit, der PYD, einer Schwesterorganisation der PKK, dominiert.
„Wir wollen Anerkennung für unser System“, sagt sie und schenkt Tee ein. „Wir wollen auf Augenhöhe über die Zukunft Syriens und des Nahen Ostens verhandeln. Die Gründung des Demokratischen Volkskongresses ist ein notwendiger Schritt in diese Richtung.“
Die Föderation sei inzwischen zu einer Kraft geworden, die nicht mehr ignoriert werden könne, erklärt Yusuf. Sie hat auch am Wahlgesetz mitgewirkt. Es sieht vor, dass Minderheiten in den Räten entsprechend vertreten sind. Für Geschlechter, ethnische Gruppen und religiöse Minderheiten gibt es feste Quoten. „Syrien war lange ein System einer Partei, einer Stimme, einer Sprache“, sagt Yusuf. „Zumindest im Norden ist das jetzt Geschichte.“
Der Krieg ist nicht weit weg
Wer durch Kamischli fährt, merkt schnell, wie verworren die Lage ist. Klebt in einem Straßenzug Werbung für die Regionalwahlen an den Stromkästen, blicken einem im alten Regierungsviertel riesige Konterfeis von Baschar al-Assad und seinem Vater Hafid an – einige Straßenzüge werden immer noch vom Regime kontrolliert.
Wie werden sich die Beziehungen mit dem Assad-Regime entwickeln, sobald der IS, der gemeinsame Feind, besiegt ist? „Nun“, sagt Yusuf und überlegt kurz, „wir werden den syrischen Staat zur Demokratisierung zwingen.“ Ungeachtet türkischer Drohungen mit einem Einmarsch gibt sich Yusuf gibt zuversichtlich: „Wir bauen hier ein neues Gesellschaftsmodell auf, das den Menschen im ganzen Nahen Osten und darüber hinaus eine andere Zukunft bietet. Das hier ist erst der Anfang.“
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