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Syrien nach dem Arabischen Frühling„Das wird alles ziemlich hässlich“

Säkularismus ist die Voraussetzung für Fortschritt, sagt der syrische Philosoph Sadik al-Azm. Ein Gespräch über erstarkende Islamisten und die Zukunft Syriens.

Sadik al-Azm bei der Verleihung der Goethe-Medaille am 28. August im Weimarer Stadtschloss. Foto: dpa
Interview von Christopher Resch

taz: Herr al-Azm, eines Ihrer ersten Werke, mit denen Sie bekannt geworden sind, war die „Kritik des religiösen Denkens“ aus dem Jahr 1969. Welche Rolle hat Religion für Sie im damaligen Damaskus gespielt?

Sadik al-Azm: Ich wurde sehr säkular erzogen. Natürlich sah sich jeder als ein guter Muslim, es gab aber nichts Dogmatisches, nicht einmal eine alltägliche Beschäftigung mit der Religion. Die Werte, die meine Eltern kommunizierten, waren die fortschrittlichen kemalistischen Werte dieser Zeit. Erziehung und Kultur meines Vaters kamen aus Istanbul. Nach dem Ersten Weltkrieg verbrachte er einige Zeit in Paris und auf Reisen, bevor er sich in Damaskus niederließ und heiratete.

Einige Ihrer Vorfahren waren Paschas, Statthalter der osmanischen Herrscher aus der heutigen Türkei.

Als Kaiser Wilhelm II. in die Region reiste, begleitete ihn mein Großvater. Ich habe Fotos von Wilhelm auf seinem weißen Pferd, mein Großvater daneben, Wilhelm in der Omaijaden-Moschee oder im Azm-Palast, dem Palast unserer Familie in Damaskus. Die al-Azms blieben bis Mitte der 1960er eine bekannte politische Familie in Syrien. Chalid al-Azm war Premierminister, als die sozialistische Baath-Partei am 8. März 1963 putschte. Im Zuge der anschließenden Landreform verloren die Azms sehr viel Land.

Einige Putsche später kam Hafis al-Assad an die Macht, der Vater des jetzigen Präsidenten Baschar al-Assad. Sie haben auch über den Sechstagekrieg von 1967 geschrieben, den eine Koalition arabischer Staaten gegen Israel krachend verlor. Die Folgen der Niederlage sind bis heute spürbar.

Absolut. Im Kollaps im Krieg von 1967 brach der arabische ideologische und kulturelle Konsens – arabischer Nationalismus, arabischer Sozialismus, arabischer Populismus – vollständig zusammen. Entscheidend war, dass diese Strömungen nicht auf natürliche Weise zu Ende gingen, sondern wie mit einer Bombe, die allem den Sauerstoff entzieht. Es entstand ein großes Vakuum, und es war ganz natürlich, dass die Menschen zum Islam zurückkehrten. Die Tatsache, dass diese damals fortschrittlich genannten Regime verloren hatten, diskreditierte sie völlig. Die islamistischen Strömungen nutzten die Gelegenheit und formierten sich, bis sie zu Beginn der 1970er zu einer sichtbaren Kraft wurden. Das war der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus.

Sadik al-Azm

80, ist einer der bekanntesten Intellektuellen der arabischen Welt. Als Philosoph und Universitätsprofessor hat er sich intensiv mit Immanuel Kant, der Säkularisierung und dem Verhältnis zwischen islamischer und westlicher Welt befasst. Seit Jahren setzt er sich für die Stärkung von Demokratie und Bürgerrechten in der arabischen Welt und seinem Heimatland Syrien ein. Am vergangenen Freitag hat er, gemeinsam mit Neil MacGregor und Eva Sopher, die Goethe-Medaille verliehen bekommen. Mit der Medaille ehrt die Bundesrepublik Menschen, die sich besonders um die deutsche Sprache und den internationalen Kulturaustausch verdient gemacht haben.

Heute ist in großen Teilen der Region eine Rückkehr zur Religiosität zu beobachten, auch in der Türkei unter Erdoğ an. Ist der Säkularismus am Ende?

Es kommt darauf an, wie man Säkularismus definiert. In Ägypten zum Beispiel hat die religiöse Al-Azhar-Behörde nicht das Sagen im Erziehungssystem, die Mullahs beherrschen nicht die Gerichtsbarkeit. Aber die Frage ist: Wer kontrolliert das, was geschieht? Für mich sind die Islamisten eine restauratorische Bewegung, so etwas wie eine konterreformatorische Kirche. Sie wollen die Kontrolle über Dinge wiedererlangen, die ihrer Meinung nach verloren gegangen sind. Wenn man unter Säkularismus die tatsächliche Trennung zwischen Staat und Moschee versteht – dann gibt es diese Trennung nicht, weder de facto noch de jure. Das gibt nur niemand zu. Gut, seit dem Aufkommen des „Islamischen Staats“ sind sich manche Menschen nicht mehr so sicher, ob sie die Scharia wirklich wollen.

Wie wichtig wäre eine stärkere Säkularisierung für die arabisch-islamische Welt?

Nehmen wir den Irak als Beispiel, wo es die Schiiten, die Sunniten und die Kurden gibt. Die Gruppen müssen verstehen, dass die Regierung nicht schiitisch, nicht sunnitisch, nicht kurdisch sein kann. Sie muss zivil, vielleicht säkular, vielleicht technokratisch sein. Ansonsten gibt es Krieg und das Land bricht auseinander. Die Regierung muss, im Gegensatz zur ethnischen und religiös-konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung, neutral sein.

Eine säkulare Regierung ist eine Voraussetzung für den Fortschritt?

Nicht nur für den Fortschritt, sondern für das Überleben. Das Problem ist, dass man erst durch so etwas wie den Dreißigjährigen Krieg gehen muss, um das zu verstehen.

Ihre Ansichten haben in der arabischen Welt immer für Kontroversen gesorgt, viele Ihrer Bücher wurden verboten.

Das stimmt. Aber wenn in der arabischen Welt ein Buch verboten wird, bedeutet das im Normalfall, dass es überall zu haben ist.

Was genau in Ihren Büchern macht den Machthabern denn so viel Angst, dass sie sie verbieten?

Meistens sind das eher lächerliche Vorgänge. Der Informationsminister will nicht, dass ihn zum Beispiel der Scheich einer Moschee anruft und sagt, da gibt es ein Buch auf dem Markt, das den Islam angreift oder zionistische Propaganda verbreitet. Wenn dann der Anruf kommt, kann der Minister sagen, wir haben das Buch verboten – Problem gelöst. Natürlich zieht das Buch dann in Schmuggler- und anderen Netzwerken seine Kreise. Das wird manchmal zu einer Art Witz. Ich war vor Jahren in Abu Dhabi in einer Diskussion über verbotene Bücher, und sie lagen vor uns auf dem Tisch. Eigentlich hätte die Polizei kommen und sie konfiszieren müssen. Aber so ist die arabische Welt.

Sie leben seit 2011 nicht mehr in Syrien, sondern zumeist in Berlin. Wie halten Sie Kontakt in Ihr Heimatland?

Ich musste das Land verlassen, weil der syrische Geheimdienst hinter mir her war. Meine engere Familie lebt auch nicht mehr in Syrien, aber meine Frau hat ein großes Netzwerk, sie betreibt Schulen für Flüchtlingskinder im Norden, zum Beispiel in Kafr Nabl. Sie macht Fundraising und kümmert sich um die Aktivisten, die dort arbeiten. Viele von ihnen sind nicht dazu ausgebildet, Schulen zu leiten.

Ist ziviles Engagement überhaupt noch möglich?

Die Zivilgesellschaft ist besiegt worden. Viele und die besten ihrer Mitglieder sind getötet, ins Gefängnis geworfen, gefoltert worden, manche mussten fliehen. Es gibt die Lokalen Koordinationskomitees, aber die sind nicht mehr so effektiv wie zu Beginn. Was der arabische Frühling gezeigt hat, war, dass unsere Zivilgesellschaften nicht stark genug waren. Vielleicht mit Ausnahme von Tunesien.

Und auch Tunesien hat ein Terrorismusproblem.

Ja, man weiß nicht, wie stabil Tunesien wirklich ist. Nirgendwo ist die Zivilgesellschaft stark genug geworden, um die Gesellschaft anzuführen.

Hat der Arabische Frühling überhaupt etwas erreicht?

Sicher hat er etwas bewirkt, zumindest hat er, so wie es Gorbatschow in der Sowjetunion getan hat, den Deckel angehoben – und alles kam hoch. Außerdem hat er es für die Präsidenten beinahe unmöglich gemacht, die Macht an ihre Söhne oder Brüder weiterzureichen. Das ist eine Errungenschaft des Arabischen Frühlings.

Wie geht es Ihrer Ansicht nach mit Syrien weiter?

Die Rachegefühle und die Mobilmachung auf der Basis religiösen Sektierertums sind zurzeit so hoch, dass ich nichts Gutes erkennen kann. Das wird alles ziemlich hässlich werden, für eine ganze Weile. Selbst wenn Baschar morgen plötzlich abtreten oder sterben sollte. Meine Erwartung ist, dass nach seinem Ende Kämpfe zwischen verschiedenen Warlords ausbrechen werden und dass es zu Pogromen kommt.

Zwischen der sunnitischen Mehrheit und den Alawiten, zu denen Assad gehört?

Unter den Revolutionären gibt es eine große Vendetta-Fraktion. Was sie wollen, ist: Rache nehmen für das Hama-Massaker oder das Massaker im Palmyra-Gefängnis, für alles Mögliche. Wir hoffen auf das Beste, aber das wird passieren. Das andere Szenario ist: Wenn das Regime kollabiert, wird es ein ähnliches wie in Afghanistan sein, nachdem die Sowjets gegangen sind. Die Warlords werden darum kämpfen, wer als Erstes Damaskus und den Präsidentenpalast einnimmt. Und wenn im neuen Syrien die Islamisten eine starke Rolle spielen, ist eine Rückkehr für mich keine Option. Jemand, der die „Kritik des religiösen Denkens“ veröffentlicht hat, wird dort nicht willkommen sein.

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8 Kommentare

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  • So oder so, es wird wohl mittelfristig keine gute Perspektive für Syrien geben. Ein weiterer gescheiterter Start in der langen Liste. Einfach traurig.

  • Mustafa Kemal Atatürk

    Zu den großen Staatsmännern unseres Jahrhunderts zählt Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei. Er gehörte zu den wenigen Persönlichkeiten der Geschichte, die ihre große Macht nicht missbrauchten. Ihm ging es zeitlebens um Frieden mit dem Ausland und die Gründung eines stabilen politischen Systems im Inland, er war ein nüchterner Analytiker der Weltlage, er blieb im Inneren stets bedacht, die Demokratie zu stärken. Als Sieger in der Schlacht um die Dardanellen 1916 blieb Atatürk auch nach der Weltkriegs-Niederlage 1918 ein Volksheld, der seine Landsleute in den siegreichen Befreiungskampf führte. In Ankara konnte daher am 29. Oktober 1923 das erste freie gewählte Parlament zusammentreten, mit dem Atatürk als Präsident ohne große Opposition sein revolutionäres Reformprogramm durchsetzte. Seine Devise war Paris statt Mekka, er wollte dadurch dem Volk eine neue kulturelle – westliche – Identität geben. Von 1925 bis 1937 führte er die europäische Kleidung ein und die Einehe, die Polygamie wurde abgeschafft. Auch die arabische Sprache wurde durch die lateinische durch ihn ersetzt. 1934 sprach er den Frauen das aktive Wahlrecht zu. Der islamischen Kalender wurde durch den christlichen 1934 ersetzt und der Sonntag wurde als Ruhetag ernannt und nicht der Freitag, wie vorher. 1937 kam dann noch der Durchbruch, dass er die Politik und die Religion teilte und dies sogar in der Verfassung aufgenommen hat. Der Satz „der Islam ist Staatsreligion“ wurde 1928 schon aus der Verfassung gestrichen.

    Ein Gesetz von 1934 gab ihm den Namen ATATÜRK (Vater der Türken). Als er am 10. November 1938 um 09.05 Uhr in der früh starb, hinterließ er einen geordneten Staat, der sich weit nach Europa geöffnet hatte. Er hat sehr viel für die Türkei getan und das rechnen sie ihm sehr hoch an.

  • Fortschritt ist ja nicht automatisch die Abwesenheit von Barbarei. Immerhin haben die fortschrittlichsten Nationen der letzten Jahrhunderte u.a. fast alle Ureinwohner Amerikas ausgerottet, fast ganz Afrika versklavt, fast alle Juden Europas vernichtet, zwei Weltkriege mit insgesamt 65 Millionen Todesopfern geführt, mehr Atombomben gebaut, als zur mehrfachen Vernichtung der ganzen Menschheit nötig sind und nebenher noch vier Millionen Vietnamesen mit flächendeckendem Gifteinsatz getötet.

     

    Ich denke, das relativiert doch die Doktrin "Westen=Fortschritt=gut / alle Anderen=Rückstand=böse" ein wenig.

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      Fortschritt, vor allem ein rein technischer, ist nicht automatisch die Abwesenheit von Barbarei, da haben Sie ganz recht. Die Gleichung: "Westen = Fortschritt = gut / alle Anderen = Rückstand = böse" geht so nicht auf, das dürfte mittlerweile (beinah) jedem schon mal aufgefallen sein. Genau deswegen ist es ja so wichtig, dass nicht nur arabische, afrikanische oder asiatische Länder säkular regiert werden, sondern auch alle Staaten der "westlichen Welt", Bayern inklusive.

       

      Macht benötigt immer ein Korrektiv, eine Instanz die unabhängig von ihr ist und trotzdem stark genug, im Ernstfall etwas zu bewirken. Wird die weltliche Macht von einer geistlichen, die selber keine Chance auf eine Regierungsbeteiligung hat, "beaufsichtigt" und notfalls kritisiert, kann sie sich rechtzeitig korrigieren. Selbst dann noch, wenn die Zivilgesellschaft, deren Aufgabe das eigentlich ist, aus irgendwelchen Gründen mal nicht wirksam intervenieren kann oder will. Für die geistliche Macht, die durch eine weltliche, nicht ideell fundierte, "überwacht" wird, gilt das Gleiche umgekehrt genau so.

       

      Das Problem für die Zivilgesellschaft besteht dann eigentlich "nur noch" darin, weltliche und geistliche Macht dauerhaft auseinander- und in einem annähernden Gleichgewicht zu halten. Außerdem muss sie beiden Institutionen interne Regeln für den Umgang mit der externen Kritik des jeweils Anderen verordnen. Die dafür nötige (Vor-)Denkarbeit müssten eigentlich die Philosophen leisten. Die aber scheinen vor allem hier im "Westen" mehrheitlich gerade mit der Vermarktung des eigenen Genies beschäftigt zu sein.

       

      So etwas wie ein Philosophen-Berufsethos ist jedenfalls derzeit nicht gut erkennbar von hier aus. Aber das ist ja in anderen Berufen nicht viel anders. Und überhaupt könnte es an denen liegen, die "irgendwas mit Medien machen", um selber an den Futtertrog zu kommen. Vielleicht geben die einfach den falschen Leuten eine viel zu laute Stimme.

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      erst mal Al-Azm lesen.... säkularisierung ist für ihn nicht gleich Westen....

      • @christine rölke-sommer:

        Für ihn nicht, aber für den Rest.

  • Nichtssagendes Bla-Bla-Bla eines Elitären aus der weggeputschten Machtclique. Und was soll das Ganze? Eine konkrete Analyse der Vorgänge wäre angebracht!

    • @Bernd Lind:

      Wie "konkret" hätten Sie denn ihre Analyse gern?

       

      Sadik al-Azm ist für Sie doch bloß ein "Elitäre[r] aus der weggeputschten Machtclique", der "nichtssagendes Bla-Bla-Bla" absondert, einer dieser völlig überflüssigen Philosophen halt. "Was […] das Ganze [soll]", würden Sie bei so viel Vorbehalten vermutlich auch dann nicht verstehen, wenn die taz das gesamte Buch des Mannes abdrucken würde, nicht bloß ein Interview mit ihm.

       

      So "konkret", wie man werden muss, um Menschen zur Vernunft zu bringen, die sich ihren eigenen Vorurteilen vollkommen unterwerfen, können (und wollen) echte Philosophen gar nicht werden. Denn wie sagte Sadik al-Azm noch gleich? Dass die Trennung von Glauben und Entscheiden "nicht nur für den Fortschritt, sondern für das Überleben" wichtig ist, verstehen die meisten Leute erst, wenn sie durch "so etwas wie den Dreißigjährigen Krieg [gegangen]" sind. Und zwar persönlich und konkret.

       

      Das ist ein echtes Problem, da hat al-Azm leider vollkommen recht.