Symboltier des Artensterbens: Das Vermächtnis der Wandertaube
Sie war der häufigste Vogel Nordamerikas, über drei Milliarden Wandertauben lebten im 19. Jahrhundert. Vor 100 Jahren starb die letzte ihrer Art.
Es war eines der größten Naturwunder der Erde. Wenn ein Schwarm Wandertauben auf Reisen ging, verdunkelte sich der Himmel, vergleichbar nur mit einer Sonnenfinsternis. Von Horizont bis Horizont sahen staunende Menschen nur noch gefiederte Leiber von Millionen und Abermillionen dieser Vögel, manchmal stunden-, manchmal sogar tagelang ohne Unterbrechung.
Der berühmte Ornithologe John James Audubon wurde 1813 in Ohio Zeuge eines solchen Zuges: „Die Luft war buchstäblich gefüllt mit Tauben; der Dung fiel in Placken, nicht unähnlich schmelzendem Schnee; das andauernde Dröhnen der Flügel begann, mich in den Schlaf zu wiegen.“
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Wandertaube, die im Amerikanischen passenger pigeon und in der Wissenschaft Ectopistes migratorius heißt, der häufigste Vogel Nordamerikas, wahrscheinlich sogar der Welt. Der Bestand zu dieser Zeit wird auf drei bis fünf Milliarden Exemplare geschätzt, er machte 25 bis 40 Prozent der gesamten Vogelbevölkerung der USA aus. Die mit einer Körperlänge von rund 40 Zentimeter für Taubenverhältnisse recht großen Vögel waren wahre Flugkünstler, die mit Geschwindigkeiten von über 100 km/h über Wälder und Prärien zogen.
Sie lebten bevorzugt in riesigen Kolonien in Nordamerika östlich der Rocky Mountains, wo sie in gewaltigen Massenansammlungen in den Wäldern nisteten und ihre Nahrung suchten, die aus Beeren, Eicheln und Nüssen bestand. Ein einziger Baum konnte mit über 130 Nestern überzogen sein, Äste brachen unter der Belastung. Ein Waldstück, das den Tauben zur saisonalen Heimat geworden war, sah anschließend aus, als sei ein Tornado durchgezogen. Auch deshalb wanderten die Vögel so rastlos umher.
Den amerikanischen Ureinwohnern der östlichen Wälder und Prärien war die Wandertaube ein wichtiger Lieferant von Fleisch und Fett, aber trotz der scheinbar unerschöpflichen Bestände jagten sie die Tiere nur in strengen Ritualen und nahmen keinen störenden Einfluss auf die Population.
Leichte Beute
Das änderte sich schlagartig mit der Ankunft der europäischen Siedler. In der fremden Wildnis wirkten Tauben im Grundsatz vertraut, nur dass die Ausgabe in der Neuen Welt größer und hübscher war – während die Weibchen eher taubengrau erschienen, zeigten die Männchen durchaus kräftige Rottöne. Vor allem aber waren sie sehr leicht zu erjagen. Flogen sie tief, konnte man sie mit Knüppeln und Netzen einfach aus der Luft holen, ansonsten erwiesen sich Gewehre als ausgesprochen effektiv.
Selbst ungeübte Schützen erlegten problemlos ein halbes Dutzend auf einen Streich, auch wenn sie nur orientierungslos in einen Schwarm ballerten. Rekordergebnisse von über 60 Tieren pro Salve sind verbürgt. Die Wandertaube wurde so zu einer wichtigen Versorgungsstütze der ins Inland drängenden Siedlerfront.
Das eigentliche Desaster begann dann einige Jahrzehnte später mit der Industrialisierung und Kommerzialisierung der sich entwickelnden amerikanischen Gesellschaft. Die scheinbar überreichlichen natürlichen Ressourcen haben die Neuamerikaner geradezu in einen Blutrausch versetzt. Hemmungslos wurde alles abgeschossen, was nur irgendwie zu vermarkten war. Es kam zu regelrechten Massakern. An einem Nistplatz in Kentucky wurden über einen Zeitraum von fünf Monaten täglich 50.000 Vögel getötet.
Der Ausbau des Telegrafenmasten-Netzes im Hinterland führte dazu, dass spezialisierte Wandertaubenjäger von gerade gelandeten Nistkolonien der Vögel rasch Wind bekamen, die neu errichteten Eisenbahnstrecken ermöglichten den Abtransport der erlegten Vögel. Ein einziger Jäger hat im Lauf seiner Karriere drei Millionen Tiere zu seinem Auftraggeber geschickt – und 1880 gab es etwa 1.200 hauptberufliche Wandertaubenjäger. Gleichzeitig wurden gerade im Bereich der Großen Seen, dem Kernbrutgebiet, die Wälder immer stärker gerodet, sodass den Wandertauben nach und nach Nahrungsgrundlage und Nistplätze genommen wurden.
Schließlich ging alles ganz schnell. Es waren nur wenige Jahrzehnte besinnungslosen Abschlachtens und Zerstörens nötig, um die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch massenhaft vorkommenden Vögel auszurotten. Erste Warnungen vor der Tragödie stießen auf taube Ohren. Eine Vorlage zum Schutz der Tiere wurde in Ohio noch 1857 vom Senat abgelehnt mit der Begründung: „Die Wandertaube benötigt keinen Schutz. Sie ist auf wunderbare Weise überaus fruchtbar, nistet in den unermesslich weiten Wäldern des Nordens, wandert Hunderte Meilen auf der Suche nach Nahrung, ist heute hier und morgen dort, und kein denkbarer Eingriff kann ihren Bestand verringern oder überhaupt nur bemerkt werden angesichts der Myriaden, die jährlich nachkommen.“
Eine Fehleinschätzung. Bereits Anfang der 1880er waren die Tiere selten geworden, 1890 waren sie fast verschwunden. Das letzte verbürgte freilebende Exemplar wurde 1900 von einem vierzehnjährigen Jungen mit dem Luftgewehr erlegt. Viel zu spät hatten sich Zoos und private Vogelzüchter der Art angenommen, die winzigen Bestände in Gefangenschaft reichten nicht, den Bestand durch Nachzucht zu erhalten oder gar wieder aufzubauen.
Fehlgeschlagene Zuchtversuche
Die letzten Wandertauben lebten im Zoo von Cincinnati in Ohio, wo Zuchtversuche fehlschlugen, bis schließlich nur noch eine übrig war: Martha. Sie lebte nach dem Tod ihrer letzten Artgenossen noch einige Jahre lang allein, bis sie schließlich am 1. September 1914 um 13 Uhr tot auf dem Boden ihres Käfigs lag. Das Tier wurde eingefroren und kam ins Smithsonian-Institut, wo es präpariert wurde und bis heute verwahrt wird. Marthas Käfig im Zoo wurde als Denkmal erhalten und der Kern einer Ausstellung über die Ausrottung dieser Tierart.
Die Wandertaube war weder die erste noch blieb sie die letzte Spezies, die durch den Menschen für immer vom Globus verschwand. Aber der Fall gilt bis heute als Meilenstein der Biodiversitätskrise. Niemand hätte für möglich gehalten, dass eine derart häufige, prominente Art einfach so verschwinden könnte. Die Katastrophe wirkte wie ein Schock und gab der noch jungen Naturschutzbewegung in den USA erheblichen Auftrieb.
Bei den Bisons, die um Büffelhaaresbreite den gleichen Weg gegangen wären, konnte die endgültige Auslöschung gerade noch durch Zuchtbemühungen in Zoos und das Aufpäppeln eines letzten Herdenrestes im Bereich des Yellowstone-Nationalparks verhindert werden. Bei anderen kam jede Hilfe zu spät.
Bedrohte Nashörner und Frösche
Der Karolinasittich, die einzige Papageien-Art der USA, trat seinen letzten Flug nur einige Jahre nach der Wandertaube an – in schicksalhafter Fügung ebenfalls im Zoo von Cincinnati. Und es hört nicht auf. Nashörner etwa haben heute nur noch eine Chance, indem sie in Zoos gezüchtet werden; die Freilandbestände stehen kurz vor der endgültigen Auslöschung. Und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit droht eine viel größere Katastrophe bei den Fröschen, von denen ganze Gattungen verschwinden, weniger durch gezielte Bejagung, aber nicht minder tödlich durch Lebensraumzerstörung und eine sich durch menschliches Wirken global ausbreitende Pilzerkrankung.
Die Menschheit scheint, gleich dem Senat von Ohio 1857, zu glauben, dass Tiere schon irgendwie immer weiter da sein werden, weil sie schon immer da waren. Wenn sie sich da mal nicht täuscht. Noch einmal Ornithologe Audobon: „Als ein Falke sich einem Schwarm Wandertauben näherte, zogen sie sich alle auf einmal wie ein reißender Strom zu einer kompakten Masse zusammen, mit einem Geräusch wie Donner. Ich kann Ihnen die extreme Schönheit ihrer Bewegungen in der Luft gar nicht richtig beschreiben.“
Das ist schade, denn wir werden nie die Gelegenheit bekommen, sie selbst zu beobachten.
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