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Sylt und AnarchieHerzlichen Punk!

Die Punks versammeln sich mal wieder zum Protestcamp auf Sylt und sind dabei bestens organisiert. Wer das spießig findet, hat gar nichts verstanden.

Camp-Teilnehmer Eliott am 28. Juli: Sylt und Punks – das passt so gut zusammen wie Ordnung und Anarchie, stimmt’s? Foto: Frank Molter/dpa

Es gibt Leute, die denken bei Punk an nicht angeleinte Hunde und „Haste ma’ ’nen Euro?“. Das sind vermutlich dieselben, die glauben, dass Anarchie ein anderes Wort für Chaos ist.

Die Aktion Sylt lädt derzeit ­wieder Punks und alle „Fans der ticket­losen Leistungserschleichung und die Unglücklichen, die doch die Fahrkarte gezahlt haben“, zu ihrem Protestcamp auf Sylt ein. Punks auf Sylt, das hatte schon in den vergangenen Jahren Aufmerksamkeit erregt. Weil Sylt und Punks – das passt so gut zusammen wie Ordnung und Anarchie, stimmt’s?

Leute, die glauben, dass Punk was mit nicht angeleinten Hunden und der Aufforderung, einen Euro zu spendieren, zu tun hat und dass Anarchie ein anderes Wort für Chaos ist, finden es sehr witzig, dass im Protestcamp der Punks auf Sylt, das dieser Tage entsteht, Leinenzwang für Hunde herrscht. Dieses Gebot kann man auf der sehr gut organisierten Website der Aktion Sylt nachlesen. Lustig, die chaotischen Punks mit ihren grünen Haaren und Hunderudeln sind spießig geworden! ­Leinenzwang, wie ulkig! Awareness-Teams gibt es auch!

Sie merken es schon. Für die Ahnungslosigkeit, die aus diesem kindischen Kichern spricht, kann dieser Text wenig Verständnis aufbringen. Aber der Auftrag lautet nicht Leserbeschimpfung, ­sondern Aufklärung.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Gut, machen wir das also.

Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren Auschwitz, der stalinistische ­Terror und die Atombombenabwürfe auf japanische Städte noch nicht so lange her. Die Supermächte USA und UdSSR bedrohten sich gegenseitig mit totaler Vernichtung. Die westlichen Demokratien waren autoritär organisiert. Frauen, Kinder und die Arbeiterklasse hatten wenig zu melden.

Punk formulierte gegenüber dieser kaputten Welt eine Ästhetik der Negation, die Rechten wie Linken gleichermaßen suspekt war. Punk sagte Nein zur allgegenwärtigen Gewalt der Gesellschaft, zur Sinnlosigkeit des modernen Lebens, zu Zwang, Konformismus, Langeweile. Punk sagte Nein zu Innerlichkeit, Formlosigkeit, Unentschiedenheit und leeren Versprechungen. Dafür nutzte Punk die Mittel der Übertreibung und der Satire. Ja sagte Punk zur Selbst­organisation, womit wir bei der Frage der Anarchie wären.

Anarchisten verstehen, dass menschliche Gesellschaften auf Kooperation basieren. Sie fordern, dass die Ausübung von Macht möglichst unterbleiben soll, weil niemand das Recht hat, über das Leben einer anderen Person zu bestimmen. Chaos, Schlampigkeit, Egoismus und das Recht des Stärkeren sind keine Synonyme für Anarchie.

Die einfachste Definition dieser politischen Philosophie lautet: Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft. Das Erreichen anarchistischer Zustände sollte der selbstverständliche Imperativ sein für jede Person, die sich der Emanzipation des Menschengeschlechts unter Berücksichtigung der Rechte von Tieren und Pflanzen verpflichtet fühlt, also hoffentlich auch für Sie.

Zurück nach Westerland. Was wollen die Punks denn nun auf Sylt? Sie kämpfen für die Rechte der Ausgeschlossenen auf der ­Insel des obszönen Reichtums. Finden Sie gut? Die Aktion Sylt nimmt Ihre Spende sicher gern entgegen.

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