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Surreales ErziehungsmärchenWo Blumen nach Ekstase duften

„The Wild Boys“ von Bertrand Mandico erzählt über böse Jungs. Da sie von Frauen gespielt werden, erhält der Film einen Glanz von Gender Fluidity.

„The Wild Boys“ Foto: Drop-Out Cinnema

„Bevor ich halb Junge, halb Mädchen war, war ich ein Junge. Ein wilder, gewalttätiger Junge.“ Mit diesen Worten endet der Prolog von „The Wild Boys“. Tanguy, ein hagerer Weißblonder mit einer weiblichen Brust und einem Penis wird von Seeleuten bei Nacht über einen Strand geschleift. Weg von einem riesigen Hund mit menschlichem Gesicht.

Schon hier schlägt Regisseur Bertrand Mandico jenen traumartigen Ton an, in dem sich sein Film fortan bewegen wird. Mit einer Vergewaltigung und ejakulierenden Geschlechtsteilen beginnt die eigentliche Geschichte. Es geht in „Wild Boys“ um eine Bande fünf privilegierter weißer Jungs auf La Réunion am Anfang des 20. Jahrhunderts. Nachdem Romuald, Jean-Louis, Hubert, Sloane und besagter Tanguy ihre Literaturlehrerin missbraucht haben, angeblich um ihrem selbst erschaffenen Gott TREVOR zu huldigen, entscheiden sich die Eltern für eine drakonische Strafe.

Ein alter Kapitän (Sam Louwyck) soll die Gang auf seinem Segelboot disziplinieren. Tatsächlich beginnt für die Bande ein Martyrium. Zu essen gibt es lediglich Massen einer haarigen, undefinierbaren Frucht. Nach einer gescheiterten Meuterei müssen die Jungen im Laderaum ausharren.

Tattoos als Biografie

Der Film

„The Wild Boys“. Regie: Bertrand Mandico. Mit Pauline Lorillard, Vimala Pons u. a., Frankreich 2017, 110 Min.

Jean-Louis bleibt mit einer Halskrause an Deck angekettet. Nur Hubert gewinnt das Vertrauen des Kapitäns, der ihm seine Lebensgeschichte anhand von Tattoos auf seinem Penis erzählt. Mit der Zeit werden die Jungen selbst zur Mechanik des Schiffs und hissen ein Segel, das über und über aus Haaren besteht. Schließlich landet die Gruppe auf einer tropischen Insel.

Als die Jungs fragen, wo sie sind, warnt sie der Kapitän, dass es diese Insel eigentlich gar nicht gebe. Mit verbundenen Augen durchstreifen sie üppig bewachsene Hügel, riechen an nach Ekstase duftenden Blumen, irgendwann gelangen sie zu seltsamen, onanierenden Pflanzen, deren Saft unvergleichbar köstlich schmeckt. Alle Bilder dieses Films sind voll mit bizarrer Schönheit, es wäre eine Versuchung, sie endlos weiter zu beschreiben.

Ein Film, der wie ein atmender Traum im Gedächtnis bleibt

Regisseur Mandico gelingt eine im positiven Sinne künstliche Bildsprache, die sich erotisch darbietet, ohne jemals plakativ zu sein. „The Wild Boys“ atmet Sexualität und Sinnlichkeit. Es ist ein reifes, vielschichtiges Coming-of-Age-Märchen, gekleidet in einen Reichtum von Farben und Formen, der eine unverwechselbare Filmwelt erschafft. Ein Universum des Unbewussten und Triebhaften, das sich allzu leicht getroffenen Zuschreibungen entzieht.

Zaubertricks, handgemacht

Mal wähnt man sich in einem lichtdurchfluteten Stummfilm, mal in einem Horrorstreifen, mal greift der Film Motive des klassischen Abenteuerfilms auf. Nachträgliche Spezialeffekte gibt es nicht, alles entsteht vor der Kamera, was manchmal an das frühe Jahrmarktkino erinnert – Film als handgemachter Zaubertrick. Untermalt wird alles mit einem traum­artigen Soundtrack aus überhitzten Synthesizern.

Mit diesen beständigen Manipulationen des Gesehenen vermeidet es Mandico, auf die Absurdität der reinen Erzählung reduziert zu werden. Und so prägt trotz der Unentrinnbarkeit der Handlung eine gewisse Offenheit den ganzen Film.

Ungestraft Privilegien auskosten

Dazu trägt auch ein besonderer Coup bei, der die Handlung in einem anderen Licht erscheinen lässt: Die so hemmungslos maskulinen Jungen werden nämlich von Schauspielerinnen dargestellt. Dank verfremdeter Stimmen fällt das zunächst gar nicht auf. Allerdings spielen Pauline Lorillard, Vimala Pons, Diane Rouxel, Anaël Snoek und Mathilde Warnier die „Wild Boys“ so natürlich, dass beim Zuschauen fast eine Faszination für die Gewalttaten entsteht. Denn die Frauen leben ihre Sexualität ungeniert, selbstbewusst und manchmal gewaltsam aus, gerade weil sie in der Haut von Jungen stecken und ein männliches Privileg ungestraft auskosten können.

Diese vulgär-befreiende Form von Gender Fluidity ist Queer Cinema im besten Sinne. Auch weil die Geschlechtsidentitäten noch offener werden: Wie sich herausstellt, führen der Konsum der haarigen Früchte und die magische Gravitation der Insel dazu, dass Männer sich mit der Zeit in Frauen verwandeln. Auch der Kapitän hat eine weibliche Brust, er ist ein Zwischenwesen, ein Seefahrender ohne endgültige Bestimmung. „Wenn ich nichts werde, dann werde ich Kapitän“, sagt der ebenfalls zwitterhafte Tanguy am Ende.

Schönheit im Begehren

Er wird als einziger überleben, nachdem seine Freunde allesamt zu Frauen geworden sind, nur um in der Brandung alternativloser Rollenbilder den Tod zu finden. Mandico macht queeres Kino, ohne Identitätspolitik zu betreiben. Er lässt seine Figuren das sexuelle Begehren ausleben, was allen Menschen gemein ist. Und findet darin vor allem Schönheit.

„The Wild Boys“ ist vielleicht der Film, den Nicolas Winding Refn zu machen versucht, seitdem er mit Alejandro Jodorowsky Kaffee trinken war. Es ließe sich noch viel mehr aus diesem Arthouse-Pulp dechiffrieren, selten war eine Filmwelt so detailverliebt. Bertrand Mandico war bisher vor allem für seine formvollendeten Kurzfilme bekannt. Nun zelebriert er sein Kino eben auf Spielfilmlänge. Es ist letztlich eine Feier jugendlichen Exzesses, des Punktes, an dem sich das Sein noch nicht für das So-Sein entschieden hat. Immer wieder raufen, saufen, tanzen und schmusen die Jungs in den leuchtendsten Farben miteinander, ganz als wüssten sie schon, dass all das bald vorbei sein wird.

Und genau so fühlt es sich an, „The Wild Boys“ anzuschauen. Gerade in seiner Liebe zum Exzess weiß Mandico um die Flüchtigkeit der Kinoerfahrung, um die Begrenztheit jeden sinnlichen Genusses. Es ist ein Film, der wie ein atmender Traum im Gedächtnis zurückbleibt. Wenn schon genießen, dann bitte in eine dieser Welten wie dem Universum der „Wild Boys“!

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