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Superbuch von Nassehi Der Mensch ist nicht so!​

Armin Nassehi hat ein grandioses Buch geschrieben, findet Peter Unfried: Wer Veränderung will, sollte nicht groß daherreden.

Die Erde ist rund und Transformation dauert länger als 90 Minuten Foto: Foto:Guillaume de Germain/unsplash

taz FUTURZWEI | Ich hab ja nun selbst seit vielen Jahren das große Projekt der „sozialökologischen Transformation“ beschrieben, beschworen und gefordert. Hab von der Kanzel der Aufklärung herunter erklärt, warum das jetzt dringend sein muss und warum das auch supi wird und deshalb zum Wohl aller oder doch der meisten ist.

Es hat sich aber nichts getan, jedenfalls nicht im großen Sinne, der mir vorschwebte. Ich hab dann streng und immer strenger kritisiert, dass sich nichts tut oder zu wenig, dass Union und SPD schlimme fossile Parteien seien, und wie dringend es ist und immer dringender wird und dass die Kipppunkte und so weiter.

Es hat sich aber weiter nichts getan, was der Dringlichkeit angemessen wäre. Union und SPD hat das überhaupt nicht gekratzt und für ihre Wähler hat es offensichtlich auch keine Priorität. Sonst wären ja Teile zu einer Partei gewechselt, die mehr Klimapolitik machen will und nicht zu einer, die die Erderwärmung als Verschwörung einer Elite versteht, um das Volk zu quälen und zu unterdrücken.

Anders über Transformation nachdenken

Weshalb es jetzt nötig ist, innezuhalten und zu überlegen, ob man das, was offenbar nicht funktioniert, einfach immer weiter machen und damit letztlich auch zu einer physikalischen und gesellschaftlichen Eskalation beitragen will. Die Alternative ist, zu überlegen, wo man selbst falsch liegt. Und in der Folge die „große Geste“ stecken lassen, wie Armin Nassehi in seinem neuen Buch vorschlägt. Wer „die Gesellschaft“ ändern will, sagt der Münchner Soziologe und Systemtheoretiker, muss „anders über Transformation nachdenken“, wie es im Untertitel heißt – und erst mal sagen können, was Gesellschaft überhaupt ist und wie sie funktioniert.

„Die Gesellschaft“ als System gibt es nicht. Es gibt differenzierte Systeme der Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Medien. Diese Systeme sind sehr stabil, was gut ist, weil sie halten und eben nicht zerbrechen – etwa wenn ein paar Nazis einen Umsturz planen. Der Nachteil ist, dass sie auch bei Veränderungsnotwendigkeit erst mal starr bleiben. Die „Gesellschaft“, also die unterschiedlichen Systeme nebeneinander, ist viel träger, als wir mit unserem „Wir haben keine Zeit mehr“-Gerede wahrhaben wollen.

Abschied vom imaginären „Wir“

Eine funktional differenzierte Gesellschaft der verschiedenen Kompetenzen hat uns seit Beginn der Industriegesellschaft enorm nach vorn gebracht in den zentralen Bereichen Freiheit, Sicherheit, Gesundheit, Wohlstand, Bildung, Emanzipation, Wohnen, Essen, älter werden und besser alt werden. Auch was Individualisierung angeht, was ja nun nicht a priori schlecht ist, im Gegenteil.

Diese Gesellschaft der Vielfalt hat eben keine omnipotente Spitze, wie eine autoritäre oder totalitäre Organisationsform. Und sie hat auch kein großes oder gar gleichzuschaltendes „Wir“, das im Gleichschritt denkt und funktioniert. Und das ist auch gut so, sonst wäre sie nicht so weit gekommen. Eine liberaldemokratische Großgruppe ist nicht mit „Wir“-Formeln zu steuern, die Leute sind eigensinnig und eigensichtig. Es handelt sich bei Deutschen oder Europäern um eine Menge von Individualisten mit losen Verbindungen, die unterschiedliche Interessen und Kulturen und Weltvorstellungen haben, aber eben auch gleiche Interessen, und da kann man Leute zusammenbringen.

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Fast alle Menschen sind konservativ

Übrigens ist der Mensch auch ist nicht so, wie er für die großen Gesten der Veränderung dargestellt wird. Da haben die Konservativen einen Punkt, wenn sie uns Menschen nicht zu viel zumuten wollen, weil das mögen wir nicht, und zwar ungeachtet der politischen Orientierung.

Fast alle Menschen sind konservativ, zumindest was ihre Alltagsrealität angeht. Sie brauchen Sicherheit, sie brauchen verlässliche Bindungen, sie brauchen morgens erst mal einen Kaffee, sie wollen im Berufs- und Lebensalltag das machen, was sie immer machen und was sich für sie bewährt hat oder woran sie sich gewöhnt haben. „Der Alltag ist stärker als jede Einsicht“, sagt Nassehi. „Gesellschaftliche Praxis ist von Wiederholung und Selbstbestätigung geprägt.“ Wer uns Menschen für Neues gewinnen will, muss an unserer Alltagsrealität andocken.

Die „große Geste“, damit könnten Hedwig Richter und Bernd Ulrich gemeint sein, die in Demokratie und Revolution grandiose Analysen von Politik und Demokratie liefern, und ein Modell komplementär oder im Widerspruch zu Nassehi entwickeln. Was laut Nassehi gar nicht funktioniert, ist die Idee, es würde vorangehen, wenn „wir“ unsere Einstellung ändern und in der richtigen Art und Weise handeln. Das fordern Richter und Ulrich: Das Individuum muss zurück in die Verantwortung und als ein gemeinsames „Wir“ Revolution machen.

Ideologie der Zumutungslosigkeit

Es handelt sich um keine Revolution im Sinne eines Systemumsturzes mit Gewalt, sondern eine Überarbeitung des Systems der liberalen Demokratie, die diese in die Lage versetzt, die großen Probleme ernsthaft zu bearbeiten. Eine Kernthese ist, dass wir gefangen sind in einer „Ideologie der Zumutungslosigkeit“, mit der Zukunft nicht mehr funktioniert (was ich auch so sehe) und wir diese nur selbst abschaffen können, indem wir es einsehen und umkehren (was ich nicht mehr für realistisch halte).

„Die zerstörende Klasse muss zugleich die befreiende sein“, also nicht das ärmere Drittel der Gesellschaft, sondern Mittelschicht aufwärts. Diese Leute, also wir, befreien uns aus der „selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“, so der Buchuntertitel, und vom „Leben in der Zerstörung“, verabschieden die alte Normalität bundesrepublikanischen Lebens und leben eine neue Normalität, in der „ökologisch motivierter Verzicht zum selbstverständlichen Teil des ganzen Lebens“ wird.

Dahinter entfalten sich drei große Gedanken (Nassehi würde wohl sagen: große Gesten). Zum einen wird die als „belastend“ angenommene Situation der Verdrängung oder schon Resignation überwunden, zum zweiten wird das Muster überwunden, nachdem der Einzelne zwar nur kleine Schuld hat, aber großer Schaden für andere entsteht, die an einem anderen Ort leben oder in einer anderen, späteren Zeit. Zum dritten, sagen Richter und Ulrich, kann der Westen sich damit neu erfinden, seine geopolitische Vormachtstellung verteidigen und auch moralische Reputation wiedergewinnen oder ausbauen.

Zum Besseren ändern – aber wie?

Grundlage dieses Denkens ist der zentrale Gedanke der Moderne: Dass die Leute (Mitglieder der Gesellschaft, Bürger) ihre Welt selbst gestalten und verändern können. Das ist ein fundamentaler emanzipatorischer Fortschritt der Geschichte.

Die entscheidende Frage ist aber: Wie genau funktioniert das in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die zwar Teilsysteme hat, die dominanter sind als andere, Wirtschaft etwa, aber eben keine hierarchische Spitze, die alles dekretiert? Man kann zwar in die Welt hineinrufen, dass die Leute sich zum Besseren ändern sollen, aber die Erfolge sind aus den von Nassehi genannten Gründen bescheiden. Die These von Richter und Ulrich ist, dass das Verleugnen der Folgen des Nichthandelns, also die Kosten für Arme, Zukünftige und Natur, anstrengender und quälender ist als Handeln. Nun gibt es in diesen Tagen einige, meist Jüngere, die klimakrank sind, also seelisch am Nichthandeln leiden. Doch die meisten Leute leiden immer noch eher, wenn es ein vegetarisches Buffet gibt, sie den Zug statt ihres Autos nehmen sollen oder der Sprit teurer wird.

Okay, das sind unterschiedliche Einschätzungen, ich will auf keinen Fall hoffen, dass ich recht habe, aber ich befürchte es. Wenn man sich an die großen Schwüre von Politik und auch unsereins erinnert, in Pandemie oder so, nun aber wirklich im Angesicht der Scheiße anders zu agieren. Sobald alles wieder „normal“ zu sein schien, hatte man auch selbst anderes zu tun.

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI – das Magazin, Ausgabe N°30: Wer ist das Volk? – Und warum ist Rechtspopulismus so populär?

Warum der Rechtspopulismus global und in Ostdeutschland so erfolgreich ist, können wir analysieren. Wie man ihn bremsen kann, ist unklar.

Diesmal im Heft: Jens Balzer, Ines Geipel, Jagoda Marini , Maja Göpel, Aladin El-Mafaalani, Thomas Krüger, Yevgenia Belorusets, Danyal Bayaz und Harald Welzer. Veröffentlichungsdatum: 10. September 2024.

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Schuld sind immer „die Grünen“

Klimapolitik triggert manche Leute, erstens wegen befürchteter ökonomischer Nachteile, zweitens wegen angeblichen Arschlöchern, die einem etwas vorschreiben wollen, und der populistische Winner ist dann die komplette oder weitgehende Umwandlung von Sachklimapolitik in Identität.

Deshalb die Identitäts-Konstruktion von Klimapolitikern als ideologische, elitäre Arschlöcher, die sich gegen den kleinen Mann, das Volk, die „normalen“ Leute verschworen haben. Das könnte man für AfD-Stuff halten, aber manchmal sind leider auch liberaldemokratische Parteien und Leitartikler nicht weit weg davon. Der Spin ist letztlich bei illiberalen und enthemmten Liberalkonservativen der gleiche: Was passieren müsste, wird abgelehnt im Namen dessen, was ist oder noch zu sein scheint, also die fossile „Normalität“.

„Schuld“ sind nicht die Autobauer, die die Elektrifizierung verpasst haben, sondern die Grünen.

Nicht die GroKo-Politiker, die 16 Jahre keine Zukunftspolitik gemacht haben, sondern die Grünen, die in Ansätzen welche versuchen. Und die Leute, die die Veränderung offensiv fordern, also wir. Da niemand außerhalb der Gesellschaft steht, leben auch wir Checker in einer „Normalität“, die es in Teilen längst nicht mehr gibt, weil es ihre Grundlagen nicht mehr gibt, und die es eben doch gibt, denn wir tun ja jeden Tag, was wir immer tun, vielleicht mehr Zoom-Konferenzen, aber das hat auch wieder nachgelassen.

Abschied vom Krisennarrativ

Krise, sagt Armin Nassehi, ist das Narrativ der Zeit. Krisendiagnosen haben im kommunikativen Raum Erfolg und Reichweite, die Krisenfrequenz nimmt zu, die sich gegenseitig verstärkenden Krisen nehmen zu, die Krisentonlage der Medien nimmt zu. Das Bestehen auf „Normalität“ ist eine durchaus verständliche Reaktion auf das Krisennarrativ und die „Visibilisierungerfahrungen“ (Nassehi), also die Sichtbarkeit des Erodierens der Grundlagen unseres (schönen) Lebens.

Die Frage, die sich mir im Nachdenken über Armin Nassehis Buch stellt – und ohne dieses Buch kann man nicht weiterdenken, diese große Geste muss sein: Ist das maximale Krisennarrativ hilfreich, weil es uns endlich aufweckt? Oder ist es schädlich, weil es zwar die Dramatik unserer Lage beschreibt, aber keine Kraft und keine Methode hat, um in den Systemen der Gesellschaft Handeln auszulösen? Verpufft es, weil wir längst auch das große Krisengerede als Normalität eingepreist haben, wie in dem Film Don‘t look up in einer Nachrichtensendung auf den Punkt gebracht: In wenigen Monaten wird die Erde zerstört werden, aha, und damit zum Wetter. Führt es zu Resignation, weil alles zu komplex und unlösbar erscheint?

Transformation muss praktisch werden

Wie kann man eine Balance herstellen, in der die Notwendigkeit des Handelns Dynamik auslöst, indem sie mit einer Zuversicht zusammengebracht wird, dass „wir“ das hinkriegen und weil es Methoden und politische Leader gibt, denen Mehrheiten das zutrauen, wodurch sich Politik und Leute gegenseitig pushen?

Ich neige zu Armin Nassehis Grundthese, dass alles eben nicht mit „großer Geste“ vorgetragen werden kann, weil Transformation nicht als große Form funktionieren kann, sondern nur in konkreten Situationen. Er nennt das „Programm der kleinen Schritte“, die in bestehenden Gegebenheiten einen Unterschied machen (ähem, zum Beispiel eine Wärmepumpe). „Gesellschaftliche Transformation muss sich praktisch ereignen.“ Oder sie ereignet sich gar nicht.

Ja, aber, wird man nun rufen: Ist das denn nicht alles viel zu wenig? Nein, was wir bisher NICHT machen, ist viel zu wenig. Bei aller Skepsis gegenüber Fußballmetaphern: Bayer Leverkusens Erfolg in diesem Jahr beruht darauf, dass das Team weiß, wie es geht und deshalb den Ball immer schön flach hält.

Das sollten wir auch probieren.

ARMIN NASSEHI: „Kritik der großen Geste“ – C.H.Beck 2024 – 224 Seiten, 18 Euro. Erscheint am 11. Juli.

HEDWIG RICHTER/BERND ULRICH: Demokratie und Revolution –Kiwi 2024 – 368 Seiten, 25 Euro.

Dieser Beitrag ist im Magazin taz FUTURZWEI N°29 erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt es im taz Shop.