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Süßes Glück

■ Vier Stunden nichts als Schokolade: Ein arte-Themenabend (ab 20.45 Uhr)

„I believe in chocolate“, säuselt eine besessene US-Lady. Diesem Credo folgt das einer anderen Schönen, die das Süßzeug „meinen idealen Treibstoff“ nennt. Und eine Dritte vergleicht: „Schokolade schmeckt immer, Sex ist oft so lala.“ Ja, was sind vergleichsweise schon Liebesglück, Fleischeslust, Erotik? Heute abend gibt es besseres: „Die zarteste Versuchung, seit es Fernsehen gibt“ – ein vierstündiger Themenabend für Schokoholics bei arte.

„Choc-O-Rama“, ein Dokumentarfilm aus den USA, beschreibt obskure Schokoladensüchte. Während der unvermeidlichen Therapiesitzungen sprechen die Abhängigen von ihren Schuldgefühlen und unzügelbarem Verlangen, von Kompensation und dem Reiz des Verbotenen und den körperlichen und psychischen Folgen. Der Genuß, kommentiert der Film, führe zu „einem emotionalen Koma“, aber er „öffnet Frauen die Seele“. Die Amerikaner kokettieren bekanntlich gern mit ihren überkandidelten Schrulligkeiten oder psychopathologischen Macken. Vor allem wenn eine Kamera läuft. Hier gelingt ihnen das besonders hübsch.

artes vierstündige Tele-Praline ist aus drei Zutaten komponiert: Üppige Füllung sind drei einstündige Dokumentarfilme, alles Auftragsproduktionen und somit Erstausstrahlungen. Der Guß ist aus einem: angerührt von dem Filmemacher Harald Pulch mit seinen überaus amüsanten Werbespot-Collagen aus einem halben Jahrhundert. Emulgator und Garnierung sind kleine Info-Splitter über Geschichte und Industrie der süßen Verführer.

Alles für unser Gaumenglück: Aus Belgien, dem Erfinderland der Edelkonfisserie, kommen die europäischen Schokoholics-Bekenntnisse mit schön gedrehten Bildern kunstvoller Handarbeit am Praliné und mit Kindern, die sich zu allerdings schwerem Opernschwulst mit leuchtenden Augen ins Glück knabbern. Ein alter brasilianischer Plantagenpatron, „der Kakaomacher“, beschreibt melodramatisch die Fron des reichen Daseins, während sein Lohnarbeiter am Kakaobohnensaft herumnippt und begeistert gesteht, davon bekomme er „immer einen Steifen“.

Es geht also doch um Sex. Um süße Aphrodisiaka und Verführer, um Lust- und Süchtigmacher und um erotisch verkleidete Werbebotschaften. Was arte da zusammengetragen und -gebastelt hat (allein für die aufwendigen Computersimulationen eine Nacht Rechenzeit – pro Sendesekunde), ist ehren- und sehenswert. Einerseits.

Andererseits: Was alles fehlt, läßt vermuten, daß die Verantwortlichen aus lauter eigener Schleckermäuligkeit etwas zu lange in Schokocreme gebadet haben. Vier Stunden und dann wenig bis nichts: über den Kakaomulti Nestlé (Drehverweigerung); über die zuckrigen Zahnkiller; kein Blick nach Afrika und die dortigen Produktionsbedingungen (60 Prozent des deutschen Rohkakaoimports kommen allein von der Elfenbeinküste). Und vor allem: nichts über die Reagenzglasinternationale der Food-Designer, die mit all ihren tückischen Zusatzstoffen und Geschmacksmultiplikatoren besonders erfolgreich in der Süßwarenbranche unsere Gaumen zartbittersüß auszutricksen verstehen. Vivien Marx, die zuständige Redakteurin: „Wir wollten keinen Abend mit vorgefertigten Meinungen nach ,Monitor‘- Art machen.“ Sondern vielmehr einen Schwelgeabend nach dem Motto „Alles so schön süß hier“, der mit klebrigen Werbeparolen auf sich aufmerksam macht: „Wie kaum ein anderes Gut vereint die Schokolode europäischen Kulturgenuß und Dritte-Welt-Schweiß.“ Zynisch?

„Das Leben ist nicht süß“, sagt der kleine Straßenhändler für Schokowaren aus Rio, „du mußt es dir eben versüßen.“ Schokolade als Opium fürs Volk. Wahrscheinlich war sogar der Sarotti-Mohr schokoladensüchtig – und wir sind bald alle so besessen wie die Amis. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der deutsche Schokowarenkonsum jedenfalls schon verdoppelt. Bernd Müllender

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