: Süßer Strudel
■ Kinopremiere im Quartier
Im Multikulturzentrum (MKZ) an der Potsdamer Straße wurde am Sonntag im flexiblen Kultureinsatzsaal (KES) das Kulturelement „Kino“ eingeweiht. Um dem auf mondän getrimmten roten Samt- und Plüschambiente gerecht zu werden, sollte man allerdings nicht von „Kino“ sprechen, sondern von „Lichtspiel“. Kino ist Sitzreihe, Dunkelheit, Knisterknabbereien, Bierflasche. Lichtspiel ist Tisch und Stuhl, dezente Innenbeleuchtung, Pralines, Glas Sekt. Zur anvisierten gehobenen Unterhaltung wird dieses gediegene Weltbürgerensemble aber erst durch die plastikmarmorfarbenen Tischtelefo ne, deren Kommunikationsqualität knapp über dem Brüll- und Lauschniveau der Büchse-Bindfaden-Büchse-Geräte liegt. Die Kontaktaufnahme per Schrei und Handwinken klappte jedenfalls weitaus besser.
Im Kartjee spielt man 20er Jahre und Mythos Berlin und Neue Welt und das Romanische Cafe sowieso, und das Publikum tut begeistert mit („toll geworden“, „hamse gut hingekrickt“). Darum ist es auch schon kein Wunder mehr, daß im Rahmen der gehobenen Unterhaltung vor der Lichtspielaufführung noch ein wenig Klaviergeklimper plus Ariengesang dargeboten wird. Währenddessen läuft eine schulterfreie Angestellte mit einladendem Lächeln und Bauchladen durch den Saal (demgegenüber haben die mürrischen Eisverkäuferinnen am Ku'damm tatsächlich eine gewisse Größe).
Nach einer kleinen Lachnummer von Tornado-Günther und einer kleinen Ansprache von Tornado-Holger, in der darauf hingewiesen wird, daß man hier wieder die Tradition des Vorfilms aufnehmen will, was von den vielen Freunden des Vorfilms im Publikum mit frenetischem Beifall aufgenommen wird, und nachdem dann auch der angekündigte Vorfilm überstanden ist, wird endlich zur Lichtspielaufführung von Billy Wilders A foreign affair übergegangen. Ein wirklich klasse Film übrigens, der Berlin so zeigt, daß man es richtig lieben könnte: voller ausgebombter Häuser und unter Kontrolle der Alliierten. Außerdem einer der großartigsten Diskurse über Fick- und Vögelstrategien im Macht-/ Karriere-/ Überlebensspiel. Dreimal gab das Publikum Szenenapplaus, weil man sich, wie gesagt, in einem Lichtspiel der gehobenen Unterhaltungsklasse befand und nicht im Kino. Größten Applaus bekam (wen wundert's in diesem Ambiente) Marlene Dietrich bei einem ihrer üblichen bemüht verrucht-erotischen Auftritte. Da beben die Herzen des konsumbewußten Citoyen und der ebenso bewußten Citoyenne, die das alles für große Verführungskunst halten und für Kunst gerne die Hände zusammenklatschen. Für diesen unvermeidlichen Hänger gibt es aber reichlich Entschädigung: geradlinig antideutsche Witze und 1a-Kosenamen: blonder Flammenwerfer, kleine Tellermine, süßer Strudel.
Um es kurz zu machen: Das Kartjee-Kino ist ein Lichtspielhaus für die neuen Mittelschichten, also für die „Schichten, die neulich zu Mitteln gekommen sind“ (Gremliza), und die den besonderen Film mit besonderer Bestuhlung erleben möchten. Schade, daß die Lichtspielleitung im Kartjee ein gutes Programm auf die Beine stellen wird, wenn sie das Versprechen einhält, das sie mit A foreign affair gegeben hat, so daß man um weitere Besuche nicht umhinkommt. Morgen gehe ich jedenfalls erst mal wieder in ein richtiges Kino.
Dralle
Und hier die sachdienlichen Hinweise: A foreign affair von Billy Wilder mit John Lund, Marlene Dietrich und Jean Arthur von heute bis Do., den 6.9. jeweils um 19 Uhr 30 und um 22 Uhr 30; ansonsten jeden Sonntag um 19 Uhr 30 und 22 Uhr 30 den ganzen September durch. Quartier, Potsdamer Straße 96, Berlin 30
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