Stück über Missbrauch in der Kirche: Entsetzliches Ausmaß
Das Theater für Niedersachsen holt das Leid der Opfer und die Verdunkelungstricks der Kirche auf die Bühne. Vorangegangen ist eine intensive Recherche.
Spätestens seit dem 2010 viral gegangenen Skandal um das Berliner Canisius-Kolleg ist der Zusammenhang von Katholischer Kirche und dem systematischen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen auch in Deutschland allgemein bekannt. Reagiert wurde mit Ekel, Empörung, Verachtung, Hilf- und Ratlosigkeit.
Aber auch heute, etliche Studien sowie Tausende neu öffentlich gemachter Fälle später, möchte wohl kaum jemand detailliert damit konfrontiert werden, in welchem entsetzlichen Ausmaß gerade Priester, Diakone, Ordensbrüder usw. ihre Schutzbefohlenen vergewaltigt und es als „gottgefällige“ Handlung gedeutet haben. Die Kirche hat das stets bagatellisiert, vertuscht oder verschwiegen, bis Verjährung geltend gemacht werden konnte. Stets im Blick hatte sie dabei die Minimierung des Schadens für den eigenen Ruf, nie die Betroffenen.
Aber all das gehört natürlich auf die Theaterbühne, gerade im Zentrum des Bistums Hildesheim. Eine kraftvoll komödiantische Abendunterhaltung ist nicht zu erwarten, für die Regisseurin Ayla Yeginer am Ohnsorg-Theater und seit 2020 als Co-Schauspieldirektorin am Theater für Niedersachsen geschätzt wird. Aber gerade sie nahm die Herausforderung des Sujets an. Dafür gab sie Kurse im Studiengang Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis der Universität Hildesheim. Ein Team von sieben Studierenden recherchierte mit ihr und entwickelte schließlich das Stück „der weg zur hölle ist mit guten absichten gepflastert“.
Aktenberge schmücken rechts und links die Bühne. Dahinter ragt eine Marmorimitatwand empor, verweist auf die prunkvolle Kälte der unbarmherzigen Kirche (Ausstattung: Anna Siegrot) und wird im Laufe der Aufführung mit Dokumenten zu Missbrauchsfällen tapeziert. Klaus Haucke, der in einem katholischen Ordensinternat missbraucht wurde, liest eine Stellungnahme vor und verdeutlicht, dass es nicht um ein Netzwerk Pädophiler, nicht um homosexuelle Gewalt, sondern um sexualisierte Machtausübung bei den Tätern gehe.
Zeugenaussage eines ehemaligen Ministranten zum Verhalten von Hildesheims Bischof Heinrich Maria Janssen (1902–1988)
Die Kirche sei Teil des Problems. Missbrauch ist eben tief in ihrer DNA verankert aufgrund der Sexualmoral und den daraus folgenden Geschlechterbildern, des Zölibats und eines überhöhten Selbstbildes der Kleriker. In den Raum geworfen wird die Frage, was an Aufarbeitung bisher geleistet wurde. Die Aufführung legt nahe: viel zu wenig. Für Ratsuchende sind Hilfsorganisationen im Theater ansprechbar, für Spenden wird von der Bühne herab geworben.
Das siebenköpfige Schauspielensemble steht immer wieder von seinen Stühlen auf und liest aus dem Textbuch vor. Erst mal stellt es die im Auftrag der katholischen Deutschen Bischofskonferenz 2018 erstellte Studie zum Thema vor, dann jene der EKD. Diese, im Januar vorgestellt, belegt, dass Missbrauch auch ein Problem der ach so offen liberalen evangelischen Kirche ist, wo „Distanzlosigkeit als Norm“ praktiziert und eben der coole Pastor übergriffig werden kann. Zwischen den präsentierten Fakten, Dokumentartheater, schlüpft das Ensemble für Zitate immer wieder kurz in Rollen oder entwickelt szenische Miniaturen, Repräsentationstheater.
So bricht es plötzlich aus einem einst tiefgläubigen Katholiken (Martin Schwartengräber) hervor. Körperbebend im Schreitonfall spricht er von seiner „unsäglichen Wut“, dass die Täter fast alle straffrei davonkommen und eine Reform der Kirche ausbleibe: „Was aber funktioniert: sich für die Täter um die Wohnsitze, Leistungsbezüge, Anwaltskosten und Vorhangstangen zu kümmern! Wer übernimmt die Verantwortung dafür, was aus den Kindern geworden ist? Die Kirche jedenfalls nicht. Ich fühle mich schuldig, weil ich die Kirche so lange mit Leib und Seele und ja, auch finanziell unterstützt habe und fühle mich wie ein dummes Schaf, das den falschen Hirten gefolgt ist.“
Dass Anspruch und Wirklichkeit der katholischen Geistlichkeit so gar nicht zusammenpassen, verdeutlicht Yeginer auch mit eingestreuten Bibelzitaten. Schön böse die Szene, wenn ein Kirchenmann über dem Geschehen thront und mit religiösen Phrasen und Kirchenglockengeläut ein Missbrauchsopfer mundtot zu machen versucht, während dieses mit dem Zufluchtsort Kirche als Ort des Grauens abrechnet.
Schließlich wirft ihm der Kirchenmann als Hilfsangebot eine Strickleiter ins Paradies zu – ein Angebot zum Suizid? Jedenfalls ein Anknüpfungspunkt, um dezidiert die lebenslangen Folgen traumatisierender Missbrauchserfahrungen auszuführen, von jahrelangen Psychiatrieaufenthalten, Angst- und Bindungsstörungen, Depressionen, Selbstmordversuchen geht die Rede.
Der Betroffene spricht in einer weiteren Szene bei zynischen Angestellten der katholisch-kafkaesken Bürokratie vor. Sie schätzen es als völlig korrekt ein, einen kinderschänderischen Priester, statt ihn zu exkommunizieren und an die Justiz zu überstellen, nur wegen des Verstoßes gegen das Zölibat an einen neuen Einsatzort zu versetzen. Dort kann er weiter sein Unwesen treiben.
Eine 1.000-Euro-Überweisung als Antwort der Täterorganisation auf Leidschilderungen bezeichnen Betroffene als Verhöhnung.
Ein Lokalbezug darf natürlich nicht fehlen. In einem kauzig satirischen Dialog streiten Mutter und Sohn über Bischof Heinrich Maria Janssen, der unter anderem einen zehnjährigen Ministranten fünf Jahre lang missbraucht haben soll. „Er nutzte immer wieder seine Autorität und Stellung aus. Es kam zu Masturbation, Oral- und Analverkehr. Der Bischof galt mir als Gott, den ich nicht kritisieren oder infrage stellen konnte.“
„der weg zur hölle ist mit guten absichten gepflastert“, nächste Vorstellungen: 5. 4., 20 Uhr, Burgdorf; 10. 4., 19 Uhr, Buxtehude; 12. 4., 19.30 Uhr, Hildesheim; 17. 4., 19.30 Uhr, Wolfenbüttel; 24. 4., 19.30 Uhr, Gronau
Außerdem schützte er pädokriminelle Priester, die nach Südamerika versetzt und dort von Adveniat, das Latein-Amerika-Hilfswerk der katholischen Kirche, unterstützt wurden. Janssens Gebeine ruhen heutzutage im Hildesheimer Dom, „und die Seele bei mir“, sagt der Teufel. Diesen Komödienmoment gönnt sich Yeginer dann doch, indem sie Teufel und Gott darüber streiten lässt, wer die Missbrauchspriester nach dem Tode aufzunehmen habe.
Besonders gut funktioniert das szenische Wechselspiel von Fakten und persönlichen Erfahrungen, da so tote Statistikzahlen über vielfach tote Täter lebendig und hintergründig beleuchtet werden. Es gelingt ein informativer, empathischer, dramaturgisch überzeugend collagierter Abend, der die nicht mehr ohnmächtig sein wollende Wut intellektuell wie auch emotional nachvollziehbar macht und mit sparsam konzentrierter Theatralität überzeugt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren