Studieren in Corona-Zeiten: Seminar in der Jogginghose
Unsere Autorin erzählt, warum sie im digitalen Semester vereinsamt – und warum Hannah Arendt im engen WG-Zimmer schwere Kost ist.
Von hier zoome ich mich in die Welt der Politikwissenschaft und der Allgemeinen Rhetorik zu Vorlesungen und Seminaren. Auf meinen 12 Quadratmetern Arbeits- und Schlaffläche fällt mir aber eher die Decke auf den Kopf als neue Erkenntnisse. Die Corona-Beschränkungen lehren mich Selbstverständliches neu zu schätzen. Wie Diskussionen. Und sie zwingen mich, Neues zu lernen: Technik und Disziplin.
Die erste Woche – ein Sprung ins kalte Wasser. Am Montag, dem 20. April, geht die Uni los. Eine Woche später als regulär und ohne Präsenzveranstaltungen. Also plötzlich alles digital. Geglaubt habe ich das nicht. Bin ich es doch seit fünf Semestern gewohnt, dass Dozierende den Beamer nicht bedienen können, Materialien nicht auf die Lernplattform Ilias laden können oder die Drucker wegen Server-Problemen ausfallen. Die erste Zoom-Sitzung am Montagmorgen verpasse ich prompt. Als ich der Dozentin schreibe, meldet sie mir lieb zurück, dass das gar kein Problem sei. Total verständnisvoll und flexibel kommen mir alle vor.
Der Kopf schwirrt mir von den vielen E-Mails und Chatnachrichten der Dozierenden. Nichts ist einheitlich bei meinen acht Kursen. Die Infos muss ich mir zusammenklauben. Die Fülle an unterschiedlichen Formaten erschlägt mich. Bei einer Vorlesung sind die Videos auf Youtube hochgeladen, bei einer anderen muss ich sie von der Lernplattform Ilias runterladen, die dritte findet live auf Zoom statt. Wie auch mein Russischkurs, ein Rhetorikseminar und ein Politikseminar.
Acht Kurse, acht Herangehensweisen
Letzteres startete zwar mit der Software Cisco Webex, die wollte aber nicht funktionieren. Zusätzlich zu den aufgezeichneten Vorlesungen finden Frage-Antwort-Stunden statt, per Zoom oder einem Chat. Ein Politikseminar zu Hannah Arendt findet dagegen nur im Selbststudium statt: Der Dozent lädt Texte hoch; ich schicke ihm Hausaufgaben zurück.
Im Notbetrieb Am 20. April, eine Woche später als gewöhnlich, begann an den meisten deutschen Hochschulen das Sommersemester. Seit Mitte März befinden sich die Universitäten wegen der Coronapandemie im Notbetrieb. Präsenzlehrveranstaltungen gibt es vorerst keine, die meisten Seminare finden nun digital statt.
Am Ausprobieren Jede Hochschule setzt die Tools ein, die die Hochschulleitung oder die einzelnen Dozierenden für geeignet halten. Die Bauhaus-Universität Weimar etwa nutzt für Live-Veranstaltungen das Open-Source-Programm BigBlueButton – für alles andere Moodle. Die Universität Münster hingegen verwendet für Seminar, Tutorien, Sprechstunden oder Gruppenarbeiten Zoom, für Arbeits- und Lerngruppen kommt das Programm Mattermost zum Einsatz. An der FU Berlin wiederum kommt vor allem die Plattform Cisco Webex zum Einsatz.
Auf der Suche Nach anfänglichen technischen Probleme stellt sich für Hochschulen nun vor allem die Frage, wie sie die Prüfungen organisieren. Viele Unis erwägen, auch schriftliche Prüfungen digital abzuhalten. Allerdings ist nicht klar, ob die Prüfungen in dem Fall rechtssicher sind, da die Hochschule sie nicht beaufsichtigen kann. Die TU Dresden etwa geht einen anderen Weg. Sie überlässt den Studierenden die Entscheidung, ob sie Prüfungen ablegen möchten und ob die Note zählen soll. Auf Wunsch können sie das Semester wiederholen. (taz)
Montagmittag, an besagtem 20. April, schaffe ich es dann zur Seminarsitzung auf Zoom. Als ich das Programm runterlade, stürzt mein Laptop, Baujahr 2014, ab. Wieder hochfahren. Der Dozent bittet, die Kameras anzumachen, damit er nicht mit seinem schwarzen Bildschirm reden muss. Ich lasse meine lieber aus. Will ich, dass alle mein Zimmer sehen? Reicht die Internetkapazität überhaupt in meiner 6er-WG? Immer wieder ist die Internetverbindung instabil und ich bekomme nicht alles mit.
Fazit der ersten Woche: vollkommene Überforderung. Alles dauert länger. Meine einzige Hoffnung ist das neue Mantra: „Gemeinsam schaffen wir das. Unterstütze Sie sich gegenseitig“, heißt es so oder so ähnlich in jeder Mail und am Anfang und Ende jeder Veranstaltung. Die Dozierenden wirken nahbarer, fragen nach Hilfe, hören zu. Wir sitzen alle im selben Boot. Das vereint Studierende und Professor*innen ungewöhnlich stark. Daten schützt Zoom zwar nur bedingt, stellt aber Egalität her.
Um sich Arendt nicht nur im Selbststudium anzueignen, bilden drei Kommilitoninnen und ich in der zweiten Woche einen Diskussionskreis. Wie soll ich mir denn Arendts Freiheitsbegriff eingesperrt auf 12 Quadratmetern erarbeiten? Ich brauche das Gespräch, muss meine Thesen, das Gelesene prüfen, darüber diskutieren. Wir verabreden uns per Videotool Jitsi. Da die Verbindung grottig ist, telefonieren wir ganz klassisch und bearbeiten die Hausaufgaben. Hausaufgaben gibt es in den meisten Kursen. Plus feste Abgaben wie zu Schulzeiten.
WG schafft WLAN-Verstärker an
Mit der Internetleistung hat auch die Uni zu kämpfen. Sie bittet: Die Lernplattform Ilias „tagsüber von 12:00 bis 14:00 Uhr NICHT nutzen“, damit Lehrende Lernmaterialien einstellen können. Außerdem solle man Ilias möglichst nicht zwischen 10 und 16 Uhr nutzen, weil das die am stärksten frequentierte Zeit sei. „Je früher morgens oder später abends Sie arbeiten, um so performanter wird Ilias reagieren“, heißt es.
Dass das Uni-Netz überlastet ist, merke ich auch bei der Frage-Antwort-Stunde per Ilias-Chat: Der Dozent ist plötzlich weg – rausgeflogen. Vorlesungen per Zoom klappen auch mit 150 Studierende erstaunlich gut. In der WG schaffen wir einen WLAN-Verstärker an, damit die Verbindung für uns alle sechs stets gut genug ist.
Für die technischen Dinge finden sich Lösungen; bei den Verhaltensregeln scheint es schwieriger: Welche Etikette gilt bei Chats und Videokonferenzen? Essen vor dem Bildschirm? Manche*r raucht gar. Wie begrüße ich die anderen? In die Kamera lächeln? Am Ende winken? Klatschen? Statt zu klatschen, drücken einige die Applaus-Funktion bei Zoom nach der Vorlesung. Vorlesungs-Feeling stellt sich trotzdem nicht ein. Ein komisches Gefühl bleibt, wenn ich nach dem neuen Input allein in meinem Zimmer zurückbleibe. Manchmal in Jogginghose.
Fazit der zweiten Woche: Für Hausaufgaben sind Struktur und Selbstorganisation gefragt. Und es gilt, eine neue Etikette zu lernen.
Referat vor dem Laptop
In Woche drei muss ich zwei Gruppenreferate halten. Die Vorbereitung läuft über Videokonferenzen, und auch die Sprechstunden mit den Dozierenden. Bei dem einen Referat sprechen wir über die Power-Point-Präsentation unseren Text ein und laden sie dann für die Kommiliton*innen auf Ilias hoch. Eine ganz neue Herausforderung, das Referat ohne Publikum aufzusagen.
Das andere halte ich live auf Zoom. Hier gibt es zumindest virtuelles Publikum. Trotzdem neu: meinen Bildschirm mit den anderen Studierenden und dem Professor zu teilen. Doch auch hier fehlen die direkten Reaktionen, die Mimik. Wegen Störgeräuschen sind alle Mikrofone stumm geschaltet, außer meinem. Es ist ungewohnt und gewöhnungsbedürftig, kein direktes Feedback zu bekommen.
Auch wenn es in manchen Veranstaltungen durchaus Raum für Diskussionen gibt, geht etwas schwer zu Beschreibendes verloren bei Videokonferenzen. Wir sprechen miteinander, sehen einander teilweise und doch fehlt etwas. Die kleinen Sachen. All die Dinge, die wir sonst intuitiv wahrnehmen. Ein richtiger Austausch kommt nicht in Gang. Wer nicht redet, hat sein Mikrofon aus: Es gibt keine Lacher oder Zwischenkommentare. Kurz: Die Atmosphäre ist steril, irgendwie leblos. Kurzes Getuschel mit dem Nachbarn: unmöglich. Spannenden Thesen des Professors mit einer Freundin nebenher nachgehen und Querverbindung schlagen: unmöglich.
Für unseren Diskussionskreis zu Arendt treffen wir uns bei gutem Wetter nun hinter der Uni-Cafeteria. Hier können wir vis-à-vis miteinander reden und trotzdem Abstand halten. Das tut gut! Trotzdem: Der Dozent fehlt. Wir haben tausend Fragen zu Arendts Unterscheidung von „privat“ und „öffentlich“ oder ob sie eine Feministin war.
Sehnsucht nach der FDP!
Fazit Woche drei: Die Referate habe ich online gemeistert und konnte technisch einiges lernen.
Vielleicht läuft es deshalb in Woche vier fast wie am Schnürchen. Andere Probleme bleiben. Verstärken sich. Da die Bibliothek nur stark eingeschränkt genutzt werden kann, kann ich keine Texte ausdrucken. Schlecht eingescannte Bücher am Bildschirm zu lesen ist nun wahrlich keine Freude.
Es strengt mich immer mehr an, für mich allein in meinem kleinen Raum zu lernen und wenig inhaltlichen Austausch zu haben. Und wenn, dann auch meist über den Bildschirm. Die sonst so selbstverständlichen Diskussionen im Hörsaal, im Seminarraum oder auf den Uni-Gängen fehlen. Ich vermisse selbst die Kommentare von Kommiliton*innen, die gänzlich anderer Meinung sind. Da der FDPler, da die konservative SPDlerin. Ich klage auf hohem Niveau. Ich habe weder ökonomische Probleme, als Studentin durch die Coronakrise zu kommen, noch vereinsame ich sozial komplett. Denkerisch und geistig aber durchaus.
Fazit der vierten Woche: Meine Augen sind noch mandelförmig, keine Spur von Vierecken. Der Computer macht einsam. Die 12 Quadratmeter engen ein. Die Sehnsucht nach einem knarzenden Hörsaal und Kommiliton*innen wächst. Das Semester wird noch sehr lang.
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