Studie zum Corona-Impfschutz: Das Labor bin ich
Unsere Autorin nimmt an einer Studie teil, die einen möglichen Impfstoff gegen Covid-19 testet. Für die taz hat sie Tagebuch geführt.
Inhaltsverzeichnis
G eht’s mir noch gut? Das denke ich, als sich die Spritze in meinen Oberarm schiebt. „Alles gut?“, fragt auch die Ärztin.
Etwas krampft sich zusammen in meiner Armmuskulatur, mehr fühle ich nicht von dem, was ich hier teste. Ich bin eine von 200 Probanden, die den Corona-Impfstoff in spe am eigenen Leib testen, eine der ersten.
„Ja, kein Problem“, sage ich. Falle zurück auf das Krankenhausbett, es ist eins von sechs. Aber momentan liege nur ich hier und mir gegenüber ein Mann, der in 30 Minuten dieselbe Spritze bekommen wird und mit dem ich noch kein Wort gewechselt habe. Da wir beide liegen, sehe ich nur die Unterseite seiner Socken, die aussehen wie neu.
Die Ärzte haben sich wieder in den Nebenraum begeben, man sieht sie hinter der Scheibe. Eine Schwester misst Blutdruck. Ich werde ruhig. In meinem Körper müssten sich jetzt kleine, ins Innere meiner Zellen geschleuste Pakete voll genetischer Information entpacken. Es ist kein klassischer Impfstoff, den ich bekommen habe, sondern der genetische Bauplan, um etwas, das dem Virus ähnelt, selbst zu produzieren. Hinter der Scheibe wirbeln die Ärzte in ihrem Labor; das eigentliche Labor bin ich.
Geht das gut? Die Studie läuft bis November und soll einen möglichen Impfstoff auf Verträglichkeit prüfen. Die ersten Freiwilligen hatten noch die zehnfache Menge bekommen und stärker reagiert als gedacht. In der nächsten Gruppe hatte sich dann wohl Unsicherheit ausgebreitet und einige waren abgesprungen. Wir kriegen nun eine stark abgeschwächte Version – in mehr als zwei Wochen dann eine weitere Impfung; nach sieben Tagen wird kontrolliert. In der Zwischenzeit soll man Buch führen, Fieber messen und sich fragen: Geht’s mir noch gut?
Ich frage mich erst mal: Wieso mache ich das überhaupt?
Vor drei Wochen, als ich überlegte, an dieser Phase-I-Studie teilzunehmen, war einer der Beweggründe noch: Superheldenkräfte erlangen. Die Chance, eventuell immun zu werden gegen Covid-19. Dazu ist eine Impfung ja da. Und wer weiß, ob der Impfstoff, wenn er denn da ist, auch verfügbar sein wird? Der Wahnsinn der geleerten Klopapierregale der Covid-19-Anfangsphase steckte mir noch in den Knochen. Wie wird man sich erst um den Impfstoff prügeln?
Dass wir Probanden aber nicht davon ausgehen können, durch die Studie den Impfschutz zu bekommen, hat man uns gleich bei der Informationsveranstaltung gesagt. Klar. Man weiß noch nichts. Aber wieso mache ich dann mit? Ich blättere in meinem Tagebuch und staune, wie schnell sich Beweggründe überlagern.
16. April
Wäre die Coronapandemie das Szenario eines Katastrophenfilms, wir befänden uns jetzt in einer Sequenz, die hinterher herausgeschnitten würde, weil die Handlung stagniert. Wir haben kapiert, dass es ernst ist, und tun, was wir müssen, aber irgendwie atmet man schon wieder auf. Wir hören, die nächste Welle der Epidemie käme dann im Winter, wir warten auf einen Impfstoff.
Blöde Dramaturgie! Und wer ist hier überhaupt der potenzielle Held? Ein genialer, uneigennütziger Wissenschaftler, der ein Heilmittel findet? Milliardäre, die ihr Geld verschenken, um Impfstoffe finden zu lassen? Oder ich? Ich bedarf einer Mission! Die „Filme“, in denen ich sonst unterwegs bin, sind allesamt geplatzt, mir bleibt lediglich die Rolle eines supporting part in diesem hier, die eines Versuchskaninchens, das potenzielle Wirkstoffe am eigenen Leib testen lässt. Ich wäre „Teil eines Forschungsvorhabens mit dem Ziel, einen neuen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 zu entwickeln“, so steht es in der E-Mail der Prüfstelle, die Testpersonen sucht. Prüfstelle. Klingt nach TÜV!
Die „Prüfstelle“ ist die Institution, die eine Substanz unter die Lupe nimmt, die ein Pharmakonzern entwickelt hat. Sie prüft Wirkung und Verträglichkeit an Freiwilligen. Dass die Pharmafirma, die das Medikament oder in diesem Fall den Impfstoff auf den Markt bringen will, dies nicht selbst macht, ist sinnvoll. Es beschleunigt den Prozess der Zulassung. Allerdings handelt es sich bei der Prüfstelle um keine unabhängige Einrichtung. Der Auftraggeber bezahlt schließlich dafür. Eine staatliche Aufsichtsbehörde, das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), hat jedoch Einblick in die Verfahren. Es muss der Studie und später der Zulassung des Impfstoffs zustimmen.
Die fragliche Corona-Impfstudie ist extrem schnell genehmigt worden. Selbst eine längere Testphase an Tieren hat es nicht geben können. Aber es seien genug Vergleichswerte mit vergangenen Coronaviren vorhanden. „Wir brauchen einen Impfstoff nicht in drei Jahren, sondern jetzt“, sagte ein Mitarbeiter des PEI. Deshalb habe man den Studienantrag im Schnellverfahren bearbeitet, das sei aber kein Anlass zur Sorge. Die Sachbearbeiter hätten sonst viele Anträge gleichzeitig auf dem Schreibtisch, jetzt habe sich die gesamte Belegschaft auf Covid-19-Konzepte konzentriert und über Ostern durchgearbeitet.
23. April
Heute ist die Informationsveranstaltung. Der Gebäudekomplex des Prüfinstituts wirkt wie ein verlassener Zauberberg. Keiner da? Ein anderer Probandenbewerber kommt und zeigt mir eine kleine Tür neben dem eigentlichen Drehtürenportal. „Werkschutz“ steht auf der Klingel. Der Pförtner ist kaum zu sehen hinter der verspiegelten Fensterwand. Einzeln eintreten. Ausweis zeigen.
Wäre es ein Film, wäre ein Türhüter die erste Hürde. Und tatsächlich kommt der potenzielle Mitproband nicht hinein, er hat keinen Termin. Ich hingegen darf durch das Drehkreuz zum Fahrstuhl, der nur einzeln befahrbar ist. Nicht nur die Prüfstelle hat ihren Sitz hier, auch ein namhafter Pharmakonzern.
Am Tresen Gratismaske bekommen. OP-Blau. Meine erste seriöse Maske!
Infoveranstaltung in engem Raum, daher fast leer wegen Abstandsmaßnahmen. Es ist die Studienleiterin selbst, die aufklärt in gut gelauntem Kurpfälzer Dialekt, ansonsten sachlich.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Besonderheit des zu testenden Impfstoffs: Es ist kein Lebend-Impfstoff, der vom Virus selbst stammt, wie zum Beispiel bei der Masern-Impfung; der Körper erhält stattdessen kleine Messenger-Partikel mit Bauplänen des Virus. Die „Transportvehikel“ dringen mit diesem Informationsgehalt in die körpereigene Zelle ein und machen diese mit dem Bauplan vertraut. Die produziert das Antigen dann selbst und „präsentiert“ es auf seiner Zelloberfläche. Das Immunsystem reagiert und produziert Antikörper.
Die Studienleiterin erklärt das am Whiteboard sachlich-zügig, man kann folgen. „Neuland“ sei es, sagt sie, aber man habe bereits Erfahrung mit Bestandteilen des jetzt zu untersuchenden Impfstoffs durch Studien zur Krebsforschung. Aufgrund dieser rechne man mit nur vorübergehenden Nebenwirkungen wie sie auch nach konventionellen Impfungen auftreten können: Fieber, Kopfweh, grippeähnliche Symptome. Sie erwähnt „sehr, sehr seltene Fälle“ mit schweren Schäden und Todesfolgen. Der neue RNA-Impfstoff verspräche da eher weniger Risiken. Auch enthalte er keine wirkungsverstärkenden Substanzen.
Sie fragt, ob jemand Fragen habe. Seltsamerweise will niemand Genaueres wissen. Auch mir bleiben die Fragen irgendwie im Hirn stecken. Vielleicht kann man an einer solchen Studie überhaupt nur mitmachen, wenn man über das Wort „Todesfolge“ hinweghört. Auch hat man das seltsame Gefühl, den Informationsfluss nicht unterbrechen zu wollen.
Die Einwilligungserklärung gibt man erst beim nächsten Termin ab, es ist also noch Zeit für „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie …“ – allerdings wen? Ärzte oder Apotheker? Meine Hausärzte sind in Rente, neue Praxen nehmen einen nicht so schnell. Rat suche ich mir also woanders. Lemmy O. kenne ihn von früher. Ein wilder Querdenker und Musiker. Er hat schon öfter Arzneimittelstudien mitgemacht, ein erfahrener und sehr kritischer Proband.
Nicht mit allen Prüfstellen habe er gute Erfahrungen, einige bezeichnet er als Schlachthaus-und-Fließband-Unternehmen. „Meine“ dagegen gilt als seriös und probandenfreundlich. Aber Impfstoffe? Nee, da würde er persönlich die Grenze ziehen. „Das ist nicht ohne! Du weißt nie, ob das nicht Autoimmunschäden nach sich zieht. Lass die Finger davon.“
23. April, nachts
Mir schwirrt der Kopf vom Surfen im Internet, von Fact-Sheets, Corona-Updates, Internetwahnsinn, Google-Ads: „modische Atemmasken – der letzte Schrei!“ Und natürlich Bill Gates. Der wolle via Impfungen Mikrochips in die Menschen schleusen und die Welt entweder retten, kontrollieren oder ausrotten. Gerade noch die Kurve zu seriöser Infoplattform für Wissenschaftler und Journalisten bekommen. Sie nennt das RNA-Konzept „elegant“, und „anders als in den USA“ müsse man nicht damit rechnen, dass das Verfahren als Gentherapie betrachtet werde. Hmm. Bedeutet das jetzt, dass es nur Ansichtssache ist, oder könnten die Messenger-Partikel tatsächlich zu genetischen Veränderungen führen?
24. April
In einen tiefen Schlaf gefallen. Von Nano-Transportvehikeln geträumt, die wie Postautos aussehen und gegen Zellwände crashen. Die Zellwände aber sehen aus wie meine eigene Hofeinfahrt, in der überall Müll herumliegt, weil der DHL-Nano-Laster die Mülltonnen umgefahren hat.
Der Wecker klingelt früh. Ich will Tee und Toast, aber es ist der Tag der ärztlichen Untersuchung und Blutabnahme. Dafür muss man nüchtern sein. Die blaue OP-Maske von gestern vor Mund und Nase, betrete ich den Zauberberg. „Sie tragen die Maske falsch herum“, sagt die Krankenschwester am Rezeptionstresen dann prompt. Die sei jetzt kontaminiert. Die blaue Seite gehöre nach innen. Ich fühle mich wie ein Idiot, bekomme eine neue.
Blutabnahme. Urintest. EKG. Die Krankengeschichte wird abgefragt. Die untersuchende Ärztin wirkt freundlich, aber zurückhaltend. Meine medizinischen Fragen beantwortet sie alle, andere nicht. Zum Beispiel die, ob sehr viele sich als Probanden melden oder lieber einen Bogen um das Neuland machen. Sie sagt, das sollte eigentlich nicht relevant sein für meine Entscheidung.
Hinterher bekommt man eine Plastiktüte mit eingeschweißten Vollkornscheiben, Extra-Käse-Päckchen und einen Apfel. Aber da ist kein Platz, um zu essen. Ein rotwangiger junger Mann, ebenfalls hungrig und auf der Suche nach einem Essensplatz, hat sich in die Cafeteria gesetzt, die sonst eine Schnittstelle zwischen dem geschlossenen Studien-Flügel und dem Untersuchungsbereich ist. Jetzt ist das Sitzen dort nicht erlaubt. Er wird gerügt, entschuldigt sich und betritt verlegen vor mir den Fahrstuhl. Wäre gerne mit ihm gefahren, aber man darf nur einzeln.
Wären die Corona-Auflagen nicht, säßen wir jetzt am Studien-Frühstücksbüfett und würden uns über alle Pros und Contras austauschen. Stattdessen befinde ich mich alleine im Aufzug im gefühlt freien Fall. Die Ärztin hat gut reden. Es mag nicht relevant sein, was andere Probanden dazu bewegt, an dieser Studie teilzunehmen. Aber es täte gut, mit jemandem zu reden, der dasselbe vorhat …
Ich schlage das Tagebuch zu. Inzwischen sitze ich in ebenjener Cafeteria, diesmal ganz offiziell, weil ich in die Studie aufgenommen bin – stationär. Also unter Aufsicht vor Ort, wenn auch nur für eine Nacht. Nein, erklärt man mir, es sei nicht mit weiteren Nebenwirkungen zu rechnen. Hmm. Okay. Hoffentlich okay.
Außer mir und dem Mann mit den Socken befinden sich noch zwei andere Probanden in der stationären Phase. Ich sehe sie aber nicht, weil wir nicht nur an getrennten Tischen sitzen, sondern auch alle äußerst unkommunikativ in einer Blickrichtung – gen Wand – platziert wurden. Wieder kein Gegenüber. Die blonde Wirtin der geschlossenen Cafeteria serviert Spaghetti bolognese. Sie bedauert die Corona-Auflagen, aber es ginge nun mal nicht anders.
„Aber wieso? Wir haben doch alle den Test gemacht. Wenn er nicht negativ gewesen wäre, würden wir doch gar nicht hier sitzen?!“ – „Ja schon …, sagt sie, aber der sei ja gestern gewesen, der Test. „Wer weiß, wo Sie inzwischen unterwegs waren.“ Sie lächelt – ich sehe es, weil sie selbst nämlich keine Maske trägt.
Der Gedanke, ich könnte mich in der Zwischenzeit infiziert haben, war mir auch schon gekommen. Wenn man ihn äußert, ob gegenüber Ärzten, Schwestern oder dem PEI, löst er meist Seufzen aus oder eine kurze Stille. Dann heißt es: „Machen Sie sich keine Sorgen, bisher waren immer alle negativ!“ Oder: „Ja das ist ein bisschen doof …“ Oder man bekommt erklärt, die Wahrscheinlichkeit sei zu vernachlässigen. Es sei ein logistisches Problem: Wenn Test und Impfung an ein und demselben Tag stattfinden und zufällig alle Probanden positiv wären, bekäme man nicht so schnell Ersatz … – „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind bestimmt negativ.“
Kleinigkeiten wie diese verunsichern mich. Nimmt man diese Unschärfe tatsächlich in Kauf zugunsten der schnellen Durchführbarkeit? Es ist so vieles ungewiss, muss sich nun auch noch der zugrunde liegende Coronatest als fraglich erweisen?
Die zweite Aufsichtsinstanz bei Arzneimittel- und Impfstudien ist die Ethikkommission, sie besteht aus Ärzten, Wissenschaftlern, Philosophen, Theologen und manchmal auch einem Laien. Als Kontaktstelle für Probanden wie mich ist sie allerdings eher nicht gedacht.
Wäre dies ein Film, müsste bald mal ein Mentor auftreten. Meinetwegen dürften es auch ein paar mehr sein. Zum Beispiel ein Rat von Ethikern.
Doch ich beschließe, nicht mehr nach Mentoren, Helden und Antihelden zu suchen. Oder gar selbst Heldin zu sein. Das Leben ist kein Film. Es ist komplex. Wirkliche Ratschläge für Probanden kann es gar nicht geben. Man muss erst die Verschwörungstheorien hinter sich lassen, sich dann durch Fachwissen ackern und am Ende doch blind vertrauen.
Natürlich verabreicht Bill Gates keine Kontroll-Impfchips durch Studien wie diese. Aber zu wissen, dass seine Stiftung Pharmakonzerne wie den, der hinter meiner Studie steht, mit 55 Millionen Euro fördert, ist durchaus etwas, das mich interessiert. Es bringt mich zum Nachdenken über idealistische Wohltätigkeit und Agenda.
Von Nutzen sein will ich jetzt eigentlich nicht mehr. Aber aussteigen? Verpassen, wie’s ausgeht?
Sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung
Ein offener Brief an ebenjenen Ethikrat, unterzeichnet von neun Ärzten aus Mittelfranken, fällt mir in die Hände – keine Impfgegner! Sondern Ärzte, die gerade, weil sie täglich mit Impfungen zu tun haben, die sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung anmahnen; sie warnen sowohl vor pauschaler Angst gegenüber dem Virus als auch vor Forschungsoptimismus um jeden Preis.
Einer der Autoren ist der Allgemeinarzt Jörg Voit. Er gibt nicht vor, alles besser zu wissen, sondern erinnert an den ärztlichen Grundsatz, zuallererst nicht zu schaden. „Die theoretischen und praktischen Risiken neuer Impfstoffkonzepte sind unzureichend bekannt. Letztlich stößt man mit dieser Art der Impfung eine Autoimmunreaktion an, die in ihren Effekten und in ihrem Ausmaß sicherlich noch nicht überblickt wird.“
Selbst der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, weise auf die „mögliche Entstehung schädlicher verstärkender Antikörper“ hin. Beim PEI bestätigt eine Pressesprecherin das Zitat, nur habe Klaus Cichutek „theoretisch“ gesagt und nicht „möglich“.
Das PEI sei überzeugt, dass alle vergleichbaren Studien ausreichen als Referenz. „Wissen Sie, wie viele Freiwillige sich von sich aus gemeldet haben?“, fügt die Pressesprecherin seltsamerweise noch hinzu. Hmm. Ja. Und? Geht’s hier denn um Angebot und Nachfrage? Und weiß das PEI, wie unsicher und wankelmütig Probanden zuweilen sind?
Ich will das Ende der Geschichte kennen
Ich wanke ja selbst. Auch die Aufwandsentschädigung spielt sicher eine Rolle für viele „Freiwillige“. Ich selbst hätte beinahe abgesagt, als die Prüfstelle anrief und fragte, ob ich früher einspringen könne, einige Probanden seien nicht erschienen. Seltsamerweise hat mich gerade das wieder in die Heldinnenpflicht gerufen. Ja, ich weiß, es ist kein Film, aber eine Geschichte, deren Ende ich kennen will.
Der offene Brief gibt mir Fragen an die Hand, von denen ich bisher nicht wusste, dass ich sie hätte haben können: Ist auszuschließen, dass die selbstproduzierten Antigene in andere Regionen des Körpers abwandern und bestimmte Rezeptoren blockieren? Etwa solche, die den Blutdruck regulieren? Ist ebenfalls möglich, dass gerade die vermeintliche Vertrautheit mit den Corona-Antigenen bei einer späteren echten Infektion die Zellen interagieren ließe?
Auch im Infoblatt zur Studie ist diese Möglichkeit, wenn auch weniger detailliert, aufgelistet. Zu meiner Überraschung entdecke ich dies – trotz häufigen Lesens – erst jetzt. Man sollte noch genauer hinsehen!
Viele Ärzte diskutieren darüber, ob das Risiko einer durchgestandenen Infektion und die damit verbundene Immunität nicht der bessere Weg wären. Auch Jörg Voit und seine Kollegen, die den offenen Brief an den Ethikrat geschrieben haben.
Sehr unterschiedliche Konzepte stoßen hier aufeinander: Stärkt man das Immunsystem, die Grundversorgung und die Gesundheit der Menschen, damit sie selbst mit den vielen Viren zurechtkommen? Oder rottet man gezielt eine Virenart nach der anderen aus? Ich bin nun also auf der Seite der Kriegsphilosophie der Medizin gelandet. Muss es ein Entweder-oder sein? Man muss ja nicht gleich mit dem Forschen aufhören, aber könnte man es vielleicht langsamer angehen lassen?
13. 5., abends
Ich stehe auf der Dachterrasse des gläsernen Prüfstellen-Palastes und blättere im Probandentagebuch. Nicht meinem eigenen, sondern einem zum Ankreuzen, das muss man jetzt täglich führen: Wie hoch ist die Temperatur? Schmerzt die Injektionsstelle? Auch eine optionale halbe Zeile für ein „weiteres Ereignis“ ist vorgesehen, falls man doch etwas hat, was der Rede wert ist.
Und wieder: Geht’s noch gut? Wie wird es sein, wenn die Pseudoviren-Antigene auf die echten treffen sollten? Produziere ich überhaupt Antikörper? Eine weitere Impfung steht bevor und viele Kontrollen. Bis in den November werden sich die Blutabnahmen ziehen. Ist es das wert?
Ein Heer von Raben sitzt rund um die Brüstung; das Nicken ihrer Köpfe hat etwas äußerst Zustimmendes, allerdings erweisen sie sich dann doch als Attrappen. Keine echten Vögel, sondern seltsame Ziertiere an galgenähnlichen Halterungen schaukeln im Wind. Man sollte wirklich genauer hinsehen! Ich beginne zu frösteln. Etwas fiebrig fühle ich mich und will ins Bett. Ein Arzt kommt mir entgegen und fragt, ob es mir gut ginge. Na ja, mal sehen.
Die Autorin Miriam Sachs, 49, ist Schriftstellerin, sie schreibt Romane und Essays. Daneben arbeitet sie als Theatermacherin. Eigentlich wäre Miriam Sachs dieser Tage mit einem Theaterprojekt im Gazastreifen unterwegs, doch dann änderten sich durch das Coronavirus ihre Pläne.
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