Studie zu sexuellem Missbrauch: Schrecken der Heime
Laut einer Studie gab es in 70 Prozent der Heime für Kinder Verdachtsfälle von sexueller Gewalt. Die Formen reichen von verbalen Übergriffen bis hin zur Penetration.
BERLIN taz | Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DjI) zum Thema sexueller Missbrauch in Schulen, Internaten und Heimen kommt zu drastischen Ergebnissen. Demnach gab es in den vergangenen drei Jahren in rund 70 Prozent der befragten Heime Verdachtsfälle von sexueller Gewalt. Bei Internaten waren es knapp die Hälfte, bei Schulen etwa 40 Prozent.
"Sexueller Missbrauch ist in den Institutionen in all seinen Facetten so virulent, dass wir es nicht zur Seite schieben dürfen", sagte Thomas Rauschenbach, Direktor des DjI. Die Studie, die von der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Christine Bergmann, in Auftrag gegeben wurde, erfasste erstmals, wie oft sich Bildungsinstitutionen in Deutschland mit sexuellem Missbrauch konfrontiert sehen. Dafür wurden deutschlandweit rund 1.100 Schulleitungen, 325 Heim- und 100 Internatsleiter befragt. Bayern verweigerte wegen datenschutzrechtlicher Bedenken die Teilnahme.
Über das tatsächliche Ausmaß sexueller Gewalt können die Ergebnisse keine Auskunft geben, da nur die offiziell bekannt gewordenen Fälle einflossen. Rund 60 Prozent der Einrichtungen haben sich an der freiwilligen Befragung zudem nicht beteiligt. Ein Viertel der Fälle an Schulen haben sich als haltlos erwiesen. Bei etwa einem Drittel kam es zu straf- oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen. "Die Zahlen sind also mit Vorsicht zu genießen", sagte selbst DjI-Direktor Rauschenbach. Unterschieden wurde nach drei Konstellationen.
Einen Verdacht auf Übergriffe durch an den Einrichtungen tätige Erwachsene gab es in 4 beziehungsweise 3 Prozent der Schulen und Internate. Dagegen hat jedes zehnte befragte Heim davon berichtet. Kinder und Jugendliche selbst standen in 16 Prozent bei Schulen und rund 28 Prozent bei Internaten im Verdacht, sexuelle Gewalt an anderen ausgeübt zu haben. Fast 40 Prozent der Heimleitungen berichten davon. Die häufigsten Verdachtsfälle betrafen Personen außerhalb der Einrichtungen, also etwa Eltern oder Bekannte. Etwa ein Drittel der Schulen und Internate und die Hälfte der Heime berichten über derartige Fälle.
"Die Zahlen sind erschreckend"
Die Formen der sexuellen Gewalt reichen von verbalen Übergriffen über Berührungen am Körper, den Geschlechtsteilen bis hin zur Penetration. In Heimen waren schwere Fälle häufiger. Ein Fünftel der Verdachtsfälle - selbst bei Jugendlichen untereinander - betraf dort erfolgte Penetration.
"Die Zahlen sind erschreckend", sagte Christine Bergmann. DjI-Direktor Rauschenbach erklärte die höhere Missbrauchsrate in Heimen mit der Intimität innerhalb der Einrichtungen. "Die Kinder leben in Heime oft in einer Art Ersatzfamilie, es gibt dort eine große Emotionalität". Fast die Hälfte der betroffenen Kinder haben sich etwa Lehrern oder Gleichaltrigen anvertraut. "Wir brauchen deshalb in den Institutionen einen adäquaten Umfang mit dem Thema, eine Kultur der Offenheit und Sensibilität", sagte Rauschenbach.
Bergmann forderte konkrete Schutzkonzepte für die Bildungsinstitutionen. "Es müssen Mindeststandards eingehalten werden", sagte sie und sprach von einem "Klima, das es zulasst, über Missbrauch zu sprechen". Maßnahmen zur Prävention sind laut Studie bisher kaum verbreitet. Spezifische Veranstaltungen mit den Kindern gibt es nur in rund einem Drittel der Institutionen, Fortbildungen für Mitarbeiter in 20 Prozent der Schulen und 40 Prozent der Heime. In weniger als einem Viertel gibt es ein sexualpädagogisches Konzept.
Zwar sei die Gesellschaft im vergangenen Jahr durch verschiedene Fälle sensibilisiert worden, sagte Bergmann, aber noch habe die Gesellschaft nicht alles gelernt. "Sexueller Missbrauch an Jugendlichen ist nicht nur ein Thema der Vergangenheit, sondern ganz aktuell", sagte Bergmann.
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