Studie zu Zweitem Weltkrieg: „Die Deutschen sind nackt und sie schreien“
Tatjana Tönsmeyer untersucht die Narrative des 2. Weltkrieges. Die Studie „Unter deutscher Besatzung“ zeigt die Wechselwirkungen des Krieges auf.
Für die meisten Europäer war der Zweite Weltkrieg eine Zeit unter Besatzung. Gerade in den ersten Feldzügen der deutschen Wehrmacht dauerten die eigentlichen Kämpfe nur wenige Wochen, während viele Länder fünf oder sechs Jahre lang besetzt blieben. Für die unter deutsche Herrschaft gefallenen Gesellschaften bedeutete dies häufig hohe Verluste, Zerstörung und Angst, es bedeutete aber auch, in einer neuen Ordnung anzukommen. Eine Ordnung mit ihren eigenen sozialen Verhaltensweisen, Ausschlussmechanismen und Handlungsrisiken.
Die Historikerin Tatjana Tönsmeyer folgt in ihrer Studie „Unter deutscher Besatzung“ dem Ansatz, in einem transnationalen Blick auf die Wechselwirkungen von Besatzern und Besetzten zu schauen. Während es Kilometer an Literatur über Besatzung und Widerstandsbewegungen in einzelnen Ländern, die Vernichtungspolitik der Deutschen und andere Aspekte gibt, schließt sie nach jahrelanger Arbeit eine Darstellungslücke: Eine Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft von Narvik bis in die Peloponnes, von der Atlantikküste bis in den Kaukasus.
Das birgt das hohe Risiko, Unterschiede zwischen den einzelnen Besatzungsregimen unsichtbar zu machen, weswegen die Autorin so grundsätzlich zu sein versucht wie nur möglich. So heißt es bei ihr definitorisch: „Besatzung bedeutete die Anwesenheit der Besatzer – in persona und in ihren Maßnahmen und Regelungen.“
Augenzeugenberichte sind die Stärke
Anwesenheit bleibt im Buch ein zentraler Begriff. Denn mit der Präsenz der Deutschen änderte sich die Lage der Besetzten grundlegend. Eine der Stärken des Buches besteht darin, dass Tönsmeyer klug und vorsichtig historische Studien mit Augenzeugenberichten unterfüttert.
Tatjana Tönsmeyer: „Unter deutscher Besatzung. Europa 1939 – 1945“. C.H.Beck, München 2024, 652 Seiten mit 21 Abbildungen und 1 Karte, 38 Euro
Immer wieder zitiert sie beispielsweise den französischen Schriftsteller Léon Werth. Er und andere beschrieben, wie sich die Atmosphäre, die Temperatur, der Geräuschpegel durch die Anwesenheit der stationierten Deutschen in den Städten und Orten veränderte: „Sie sind dauernd nackt, nackt, wenn sie essen, nackt, wenn sie ihr Gewehr putzen, nackt, wenn sie rauchen. Sie sind nackt und sie schreien.“
Deutschland erwies sich als ein überaus paradoxer Besatzer. Er wollte gleichzeitig Ordnung aufrechterhalten und zerstören, wirtschaftlich maximalen Nutzen ziehen und gleichzeitig rassistische Bio- und Vernichtungspolitik betreiben. In diesem Geflecht an undurchschaubaren Zielkonflikten versuchten sich die Besetzten so gut es ging zu arrangieren.
Das Militär mit Kontrollfunktion
Das fing bei banalen Dingen wie dem Einhalten der Grußpflicht gegenüber deutschen Soldaten an und ging bis zur politischen Kooperation: Da die Deutschen gar nicht über das Personal verfügten, die eroberten Gebiete selbst zu verwalten, beließen sie an vielen Orten die Verwaltung im Amt und überstellten ihr einen Militärbefehlshaber.
In allen Besetzungskonstellationen waren Juden immer die vulnerabelste Gruppe, wie Tönsmeyer betont. Sie waren vor allem bedroht durch die Deutschen, doch viele der besetzten Gemeinschaften, in denen sie lebten, waren ebenfalls schnell für antisemitische Pogrome zu entflammen. Das Bewirtschaften von Ressentiments war eine der Kernkompetenzen der nationalsozialistischen Besatzung. Das galt auch für ethnische Konflikte.
Doch auch für die nichtjüdische Mehrheit stellte sich die Besatzung bald schon als eine Mangelgesellschaft heraus. Das ewige Schlangestehen wurde zur täglichen Aufgabe, wer überleben wollte, musste aus sehr wenig das Nötigste machen. Viele wollten mit der Arbeit für die Deutschen ihre Nahrungsrationen aufbessern, noch mehr wurden gezwungen: Auf dem Höhepunkt geht die Forschung von 36 Millionen unfreien Arbeitsverhältnissen aus.
Überleben durch Besatzungswissen und Diebstahl
Die Autorin stellt dar, wie diejenigen halbwegs unbeschadet durch die Besatzungszeit kamen, die „occupation wisdom“, Besatzungswissen, ausbildeten. Das bedeutete nicht nur, die neuen Regeln besser und schneller als andere zu verstehen, sondern auch, die Umkehr von Ordnung zu akzeptieren: So etablierte sich schnell der Diebstahl als eine neue Norm des Über- und Zusammenlebens.
Bevor ein falscher Eindruck entsteht: Der Autorin ist klar, dass sich „zu arrangieren“ nur jenen vergönnt war, die dafür Spielraum hatten. Juden, Sinti*zze und Rom*nja, nicht-arbeitsfähige Menschen oder andere vulnerable Gruppen kamen häufig gar nicht in die Gelegenheit, den kleinen Spielraum zu nutzen, den Besatzungsgesellschaften ließen. Selbst jene, die nicht direkt bedroht waren, mussten die tagtägliche Gewalt aushalten: Gerade Frauen waren Opfer körperlicher Gewalt und Demütigungen.
Doch in ihrer Betrachtung entdeckt die Autorin auch ein Moment der Selbstermächtigung: Sie zeichnet an verschiedenen Beispielen nach, wie es Gemeinschaften unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch Solidarität gelang, Menschen zu schützen. Auch die neuen Ordnungen ließen sich untergraben, unterhöhlen und zum Guten ausnutzen. Dass wir, die wir nicht im Krieg leben, besser verstehen lernen, was es heißt, unter Besatzung zu sein, ist das Verdienst dieses erschütternden und kenntnisreichen Buches.
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