Studie untersucht demokratische Entwicklung: Auslaufmodell soziale Marktwirtschaft
Weil in vielen Ländern die Voraussetzung für ein demokratisches System fehlt, verliert auch die soziale Marktwirtschaft weltweit an Bedeutung, berichtet eine neue Bertelsmann-Studie.
Gerade einmal 13 von 125 Staaten mit einst autoritärer Staatsform konnten bislang eine rechtsstaatliche Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft etablieren. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung, die am Dienstag veröffentlicht wird. Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft dürften die Ergebnisse des "Bertelsmann Transformations Index 2008" (BTI) ernüchternd sein. Denn global gesehen befindet sich Europas bevorzugtes Gesellschaftsmodell auf dem Rückzug, weil es immer wieder an der praktischen Umsetzung scheitert. "Häufig findet ein Rückfall in autoritäre Strukturen statt, weil die Bevölkerung in Ländern mit schwach ausgeprägter Demokratie desillusioniert ist", sagt Projektleiter Hauke Hartmann von der Bertelsmann Stiftung.
125 Länder wurden für die Studie untersucht, ob sie die Grundvoraussetzungen von Demokratien mit sozialer Marktwirtschaft erfüllen. Dazu gehören etwa politische und bürgerliche Freiheitsrechte, staatliche Sozialsysteme, ein gesichertes staatliches Gewaltmonopol sowie eine funktionierende staatliche Verwaltung. 50 Staaten verfehlen diese Kriterien laut Studie vollkommen: Sie werden dort als Autokratien oder als "gescheiterte Staaten" bezeichnet. Diese Länder gibt es besonders häufig in Afrika. Von den letzten 14 Plätzen des Rankings stammen 8 Länder vom Schwarzen Kontinent, darunter Tschad, Elfenbeinküste, DR Kongo, Sudan und Somalia auf dem letzten Platz. Extreme Armut, mangelnde Bildung und fehlende Infrastruktur würden die Entwicklung dieser Länder weiter erschweren. Auch Irak und Afghanistan gehören zu den Schlusslichtern und werden als "Katastrophenfälle der internationalen Politik" bezeichnet. "Hier zeigt sich, dass eine extern erzwungene Demokratisierung stets vom Scheitern bedroht ist", heißt es in der Studie. "Anders als etwa die USA glauben, reicht es nicht, lediglich freie Wahlen abzuhalten, wenn grundlegende Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft fehlen", sagt Hartmann. Hilfe bei der Abwendung des Staatskollapses in diesen Ländern kann nach seiner Einschätzung nur von der internationalen Staatengemeinschaft kommen.
Weitere 52 Staaten verfügen nach Meinung der Gutachter über eingeschränkte Demokratien. "Stark defekt" seien etwa die Strukturen in Russland, Venezuela, Kolumbien und Mauretanien. Hier ist häufig das politische System nicht repräsentativ, die Rechtsstaatlichkeit nicht ausgeprägt oder die Korruption verbreitet. Trotz wirtschaftlichen Wachstums hätte die politische Führung der meisten Transformationsländer in den letzten Jahren zu wenig in die Stärkung ihrer demokratischen Systeme investiert. Auch das ökonomisch boomende China kommt nur auf einen unrühmlichen 85. Platz.
Spitzenplätze im Ranking belegen vor allem osteuropäische Länder wie Tschechien, Slowenien, Estland und Ungarn. Rechtsstaatliche Standards hätten sich in 12 dieser Länder verbessert, darunter Indien, Brasilien, die Türkei und Paraguay.
Allerdings sind solche Länder-Rankings unter Fachleuten umstritten. Der Ökonom Ullrich Heilemann, Direktor des Institutes für Empirische Wirtschaftsforschung in Leipzig, spricht in einem Gutachten für das Bundesfinanzministerium etwa von "Zahlenalchemie". "Eine wissenschaftliche Untersuchung lässt sich nicht auf eine einfache Zahl reduzieren", sagt Heilemannn. Bertelsmann-Projektleiter Hauke Hartmann verteidigt die Rankingliste als Kommunikationsmittel: "Sie ist wichtig, um bestimmte Aussagen auf den Punkt zu bringen. Sie soll aber nur einen Einstieg bieten."
Leistungsrankings sind ein beliebtes Werkzeug der Gütersloher Vordenker. Nach eigenem Bekenntnis verfolgt die Stiftung eine marktwirtschaftliche Agenda, die sie mit Konzepten für weniger Staat und mehr Eigenverantwortung unterfüttert. Im Zentrum ihrer Konzepte steht häufig die Umgestaltung gesellschaftlicher Bereiche nach marktwirtschaftlichen Prinzipien - meist durch Privatisierung und Deregulierung. Schon lange haben sich die Konzern-Forscher damit als Ideenlieferant für die Politik empfohlen. So leistete die Stiftung maßgebliche Vorarbeiten etwa für die Hartz-Reformen, die Einführung von Studiengebühren und die Riester-Rente.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei