Studie über Sexualität und Abtreibung: Der Lebenshunger der Überlebenden
Die Historikerin Atina Grossmann hat eine fulminante Studie über Sexualität, Fruchtbarkeit und Abtreibung in Deutschland nach 1945 vorgelegt.
Biopolitik, so Michel Foucault, ist der Wille gouvernementaler Institutionen, die Körper der Bevölkerung eines Territoriums zu kontrollieren: meist zur Geburtensteigerung oder -minderung und damit immer auch, um Sexualität zu kontrollieren.
Freilich scheint auch eine Biopolitik „von unten“ zu existieren, gewaltsam oder begehrlich, die sich kaum oder nur wenig auf gouvernementale Einflüsse zurückführen lässt – vor allem in Kriegs- und Nachkriegszeiten. Das zeigt die in New York lehrende und forschende Historikerin Atina Grossmann, deren Spezialität bisher die Geschichte der deutschen Sexualreformbewegung war, in ihrem neuesten Buch.
Dabei geht es wie im Fall einer Ellipse mit zwei Brennpunkten hier um die geografischen Zentren Berlin und München und dort um die Körpergeschichte deutscher und jüdischer Frauen zwischen dem Mai 1945 und dem Mai des Jahres 1948, in dem der Staat Israel gegründet wurde. In ihrer aus vielfältigen Quellen aus Zeitungsartikeln, privaten Korrespondenzen, Spielfilmen, Kolportageromanen, aber auch amtlichem Schriftverkehr schöpfenden Studie gelingt es Grossmann, zwei bisher strikt getrennt behandelten Themen nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander verschränkt gerecht zu werden.
Babyboom bei jüdischen Frauen
Ausgangspunkt ist ein demografischer Befund: Während die Geburtenrate unter deutschen Frauen 1946 auf einen historischen Tiefpunkt sank, erreichte sie unter überlebenden jüdischen Frauen einen auch im Weltmaßstab einmaligen Höhepunkt; unterbot die Kindersterblichkeit in den hygienisch unzureichenden Lagern der Überlebenden in Bayern sogar das in dieser Hinsicht vorbildliche Neuseeland.
Während in Berlin und weiteren von der Roten Armee besetzten Teilen des Deutschen Reichs Hunderttausende, ja Millionen von Frauen von Rotarmisten oft genug mit der Folge der Schwangerschaft vergewaltigt wurden, führte der Lebenshunger jener jungen jüdischen Männer und Frauen, die die Vernichtungslager überlebt hatten und denen die Flucht aus dem mittlerweile wieder antisemitischen Polen gelungen war, zu einem Babyboom, der seinesgleichen suchte.
Grossmann gelingt nicht weniger als eine Sozial- und Körpergeschichte jener Vergewaltigungswelle, wobei unausgemacht bleibt, ob diese einem gouvernementalen Impuls folgte oder kaum zu bändigender Ausdruck der Rache und der Lust einer über Jahre geschundenen Soldateska war. Für die mit der Roten Armee zurückkehrenden deutschen Kommunisten jedenfalls stellten die Vergewaltigungen und Abtreibungen ein schweres Legitimationsproblem dar.
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So notierte der Trotzkist Isaac Deutscher in einem Bericht für den Londoner Observer im Oktober 1946: „Und in den Wahlkabinen am nächsten Sonntag werden die Frauen Berlins an den Russen und an den deutschen Kommunisten Rache nehmen für die Demütigungen, die sie ihnen während der ersten Okkupationswochen zugefügt hatten.“
Der spätere Staatsratsvorsitzende der DDR aber, Walter Ulbricht, damals noch Mitglied des Landtages von Sachsen, erklärte – hier ganz Biopolitiker – angesichts der hohen Abtreibungsquote: „Die Herren Ärzte müssen darauf aufmerksam gemacht werden, in dieser Frage etwas mehr Zurückhaltung zu üben.“
Körpergeschichte im „Zeitalter der Extreme“
Methodisch markiert Grossmanns Untersuchung einen paradigmatischen Durchbruch. Die von ihr behandelten Themen: Vergewaltigungen, sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Juden, Juden und Deutschen, Deutschen, Juden und Besatzungssoldaten unter den zum Teil anomischen Bedingungen der Nachkriegszeit fließen zu einer Körpergeschichte im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) zusammen.
Ohne eigens der nur psychologisch zu erforschenden Beziehungen zwischen Leiblichkeit und Emotionalität nachzugehen, füllt diese Untersuchung Leerstellen zur kollektiven Befindlichkeit von Deutschen und der Juden aus, Leerstellen, die bisher mit Begriffen wie „vaterloser Gesellschaft“ oder „Überlebensschuld“ überdeckt wurden.
Atina Grossmanns gender- und körpergeschichtliche Untersuchung komplettiert nicht nur alle bisher publizierten Arbeiten zur (unmittelbaren) Nachkriegsgeschichte der Juden auf deutschem Boden – bis hin zu dem in den Displaced-Persons-Lagern intensiv gelebten Zionismus –, sondern auch die vielfältigen, zu Recht kritisch beäugten Untersuchungen zum Besatzungsregime der Roten Armee.
Dabei ist es Atina Grossmann trotz ihrer besonders heiklen Thematik gelungen, einer meist nur proklamierten, in den seltensten Fällen eingehaltenen Tugend als Historikerin zu folgen, nämlich – so schon Tacitus – „sine ira et studio“, ohne Zorn und Eifer, zu erzählen und zu urteilen. Dieses Buch wird für lange Zeit das entscheidende Standardwerk zum Thema bleiben.
„Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland“. Aus d. Englischen v. Ulrike Bischoff. Wallstein Verlag, Göttingen, 472 Seiten, 29,90 Euro
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