piwik no script img

■ Studentenproteste: 1968 verbargen sich die Autoritäten hinter einer Mauer aus Nein – heute verschwinden sie in einem Nebel aus JaEin Crashkurs in politischer Bildung

In Gießen streikten bereits die Studenten, da trafen sich in der Hamburger Universität lauter Männer über 50 zu einer Feierstunde. Geladen waren Ehemalige, die sich vor 30 Jahren bei einer Rektoratsfeier mit dem Transparent „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“ vor die Prozession verdutzter, noch Talare und Halskrausen tragender Professoren gesetzt hatten. Die Feier damals im November 1967 wurde vollends zum Skandal, weil ein Professor den Studenten zurief: „Ihr gehört alle ins KZ.“ Heute muß man nicht darüber streiten, ob dieser Satz eine typische oder untypische Entgleisung war. Kein Zweifel aber, der Protest wurde 1967/68 von den antiautoritären Studenten ebenso wie von den Autoritäten als Generationenkonflikt erlebt. Die Rebellen schrien: „Alle Autoritäten sind Papiertiger.“ „Trau keinem über 30!“ „Erwachsene sind Verwachsene!“

30 Jahre später geht eine Generation auf die Straße, die zumeist von verzagten Eltern erzogen und von Lehrern, die sich selbst nicht recht trauen, unterrichtet wurde. Diese Studierenden haben die katastrophalen Zustände an den Universitäten lammfromm hingenommen, nun melden sie sich zu Wort. Und was bekommen sie zu hören? Ihr habt ja so recht! Endlich geht ihr auf die Straße! Wir an eurer Stelle, ha, wir damals.

Von Rüttgers bis zu den Grünen, die in Hessen mitregieren, wo den Hochschulen 30 Millionen Mark oder fast 500 Stellen gestohlen wurden, schicken Politiker den Studenten sackweise Worte voller Sympathie und blaue Briefe mit dem Countdown für die Streichungen der nächsten Jahre. Sie inflationieren die noch beleihungsfähigen Reste ihrer Semantik. Das wird ein Zusammenbruch, wenn auch der Rest verpulvert ist! Daß sie den neuen Protest in einem Meer von Zustimmung ertrinken lassen, kommt weniger aus durchtriebener Taktik denn aus purer Feigheit und Verantwortungslosigkeit – was weit deprimierender ist. Verantwortung bedeutet ja erst mal „antworten“. So wie Autoritäten 1968 nicht antworteten, indem sie sich hinter einer Mauer von „Nein“ verbargen, so verstecken sich heute viele von denen, die sich selbst „die Verantwortlichen“ nennen, hinter einem Nebel von Ja.

Die heutigen Jasager-Erwachsenen werden von den Jugendlichen verachtet. Ihre Rhetorik wird nicht mal mehr der Lächerlichkeit überführt, da hören sie lieber gleich Musik. Das sollte niemand damit verwechseln, die Jungen seien desinteressiert, dem Konsum verfallen und ein bißchen gaga. Wie Findelkinder werden sie in so unwirtlichen wie verkommenen Hochschulen ausgesetzt. Verloren wie Kinder auf einem viel zu großen und zugigen Bahnhof, sind sie mit sich und der Suche nach Orientierung beschäftigt. Ihre Grunderfahrung ist, nicht gebraucht zu werden.

Die neuen Proteste sind nun der erste Versuch, eine Elterngeneration zur Rede zu stellen, die Weltmeister der Rhetorik und Schwächlinge im Handeln hervorgebracht hat. Noch sind die neuen Proteste in Bravheit verpuppt. Mag sein, daß sich die ganze Sache damit bald erübrigt. Es könnten demnächst Schmetterlinge schlüpfen, keine hysterischen Agitatoren, sondern Studenten, die Pragmatismus mit Phantasie verbinden, die in den Streiktagen, diesem Crashkurs politischer Bildung, durchschaut haben, wie die politische Klasse ziellos um den Nullpunkt dümpelt. Eine neue Inszenierung des Märchens vom Kaiser ohne Kleider steht an.

Gesucht werden aber auch erwachsen gewordene Erwachsene, die für die Welt einstehen, wie sie ist, und die sich dennoch nicht mit ihr abfinden. Die protestierenden Studenten brauchen Mentoren. Vom Gelingen solcher Bündnisse wird die Evolution der neuen Studentenbewegung abhängen. Solche Erwachsene, die antworten und Fragen stellen, kritische Freunde also, sollten sich nicht lange bitten lassen und jetzt in die Hochschulen gehen. Leute, die was zu sagen haben, vielleicht auch was zu unterrichten, Menschen, die sich zusammen mit den Studis zum Lernen, Denken und Handeln verabreden. Was wäre das für eine Hochschulreform.

So könnte, ja, so müßte der Studentenprotest weitergehen: aus der Uni wieder einen wichtigen Ort machen, ein Forum, eine Zukunftswerkstatt. Ein Ort der Kultivierung, kein Tagebau, in dem „Ressourcen für die Zukunft“ im Namen des Standorts gehoben weren. Alle Uni-Streiks seit 30 Jahren waren Versuche zur Selbstinitiation, Versuche, das Licht von Lernprozessen der tristen Belehrung entgegenzusetzen, „Intelligenz als Vorfreude auf sich selbst“ hervorzubringen, wie es Peter Sloterdijk kürzlich formulierte. Dazu müssen auch die Studenten ihre zuweilen leere Rhetorik und pawlowschen Forderungen ablegen. Es reicht nicht bloß, Eurofighter zu schreien und 32 Milliarden aus dem Rüstungsetat zu reklamieren. An den Studenten, ihren Bündnispartnern und Mentoren ist es, aus der Megarhetorik „Bildung“ nun tatsächlich das politische Thema zu machen, das wie kein anderes dazu geeignet ist, den Rahmen für eine Debatte über die Zukunft abzugeben.

Dabei geht es ja nicht nur darum, was und wieviel Studenten künftig lernen sollen, so wie man es sich seit dem 19. Jahrhundert angewöhnt hat, Wissen in Lehrpläne, Curricula oder Studienordnungen zu schnüren. Es geht um die Fähigkeit, selbst Wissen zu generieren. Die Lehrplanwirtschaft würde auch dann zusammenbrechen, wenn unsere Hochschulen bestens ausgestattet wären. Nein, eine Währungsreform steht an, es geht darum, ob der auslaufenden Industriegesellschaft der anstehende Schritt von einer belehrten zu einer lernenden Gesellschaft gelingt, oder ob bald einem Heer der Nutzlosen eine kleine Elite gegenübersteht, die es geschafft hat, sich selbst zu organisieren. Das ist heute die Organisationsfrage. Unis müssen Labore dieses Übergangs werden. Der Horizont des Studentenprotestes, noch novembrig bewölkt, ist das Ende der industriellen Moderne.

Die 68er hatten ihren Vätern Masken und Talare vom Leib gerissen und sogleich neue Prothesen gesucht und gefunden: Ideologien und Karrieren, Schutz in geschlossenen Systemen. Die Heutigen stecken in einer schwierigen und spannenderen Situation: Sie müssen sich selbst erfinden. Es geht nun nicht mehr um Freiheit von etwas, sondern um Freiheit zu etwas. Das ist ein viel größeres Projekt, und es ist weniger spektakulär. So gesehen schützen Politiker, die nicht mal mehr zum Widerspruch in der Lage sind, vor Energieverschwendung. Dann muß man allerdings auch aufhören, an sie zu appellieren. Reinhard Kahl

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen