■ Querspalte: Streß und schwarze Hirten
Natürlich geht der moderne Mensch nicht in die Kirche. Was soll er da? Langweilige Predigten, Kälte, Zwielicht! Und dann wird man auch noch angebettelt, als zahlte man nicht schon genug Kirchensteuer. Natürlich tritt der moderne Mensch deswegen nicht aus der Kirche aus. Warum sollte er? Das viele Steuergeld wird doch sinnvoll verwendet. Doch die immer weiter ansteigende Kirchenaustrittswelle hierzulande ist nun einmal keine Erfindung der Medien. Warum also jetzt dieser Exodus?
Wir, die wir in einer südwestdeutschen Kleinstadt leben, sind von Kirchenglocken umzingelt. Es ist grauenhaft. Es gibt kein Entkommen. Ich selbst bin aus diesem Grunde beinahe sündig geworden: Das Zimmer unseres Sohnes ist das einzige im Hause, in dem man länger als bis sieben Uhr morgens schlafen kann. Das war doch schon immer so, sagen Sie? Zugegeben, doch der hochzivilisierte Europäer des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist mit seinen Ahnen nicht mehr zu vergleichen – allenfalls so, wie man ein überzüchtetes, lichtscheues Edelschoßhündchen mit seinem Stammvater, dem Urwolf, vergleichen würde. Und so ist Lärm zu einem jener Streßfaktoren geworden, denen heute praktisch überall mit hohem finanziellem Aufwand und entsprechend harschen gesetzlichen Regelungen begegnet wird. Ausgenommen sind Kuh- und Kirchenglocken. Letztere sind – wie ER selbst – stets bei und unter uns. Doch hält ER wenigstens die Klappe, es sind seine Angestellten, die sich anstellen.
„Hör mal, Junge“, flötete ich also jüngst, „Mama und ich finden, du bist jetzt eigentlich schon zu groß für dieses Zimmerle. Wir wären zum Tausche bereit, was meinste?“ Natürlich wurde nichts draus. Seine Mutter kann nicht lügen. Außerdem stellte sie mich vor dem Jungen auch noch hin wie einen Betrüger. Ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob es nicht diese schreckliche Ohnmacht des einzelnen vor dem ewigen Gebimmle ist, die zum Austreten reizt – und nicht so sehr die steten Verfehlungen der schwarzen Schafhirten. Philipp Maußhardt
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