60 Jahre NDR Lange wurden in dem Sender Kontroversen offen ausgetragen. Das ist vorbei
: Streitlust der frühen Jahre

Anfangszeit: Fernsehstudio 1953 in Hamburg Lokstedt, drei Jahre vor Gründung des NDR   Foto: dpa

von René Martens

Vor wenigen Wochen bewahrten mehr als 40 Redakteure des NDR ihren Sender vor einem großen Imageschaden: Die Mitarbeiter hatten mit einem ­Schreiben gegen die Entscheidung protestiert, den im trüben rechten Milieu umgehenden Musiker Xavier Naidoo als deutschen Vertreter zum Eurovision Song Contest zu schicken, für den der NDR innerhalb der ARD zuständig ist. Die Senderoberen revidierten infolge des kleinen Aufstands ihre Entscheidung. Dennoch, es blieb das Erstaunen darüber, dass die bestens bezahlten Medienmanager offenbar wenig bis nichts davon mitbekommen hatten, wie Naidoo sich zuletzt als politischer Wirrkopf präsentiert hatte.

Auffällig an der Aktion war, dass die beteiligten Redakteure darum baten, ihre Namen in der Presse nicht zu erwähnen. Gewiss, es gibt Dinge, die bei einem Unternehmen intern bleiben sollten. In anderen Phasen des NDR war eine solche Zurückhaltung freilich weniger verbreitet gewesen. Das zeigt ein Blick in die Geschichte des Senders, der in diesen Tagen 60 Jahre alt wird – um die Jahreswende 1955/1956 herum spaltete sich der in der Nachkriegszeit von den Briten formierte Nordwestdeutsche Rundfunk: in den WDR mit Sitz in Köln einerseits und den NDR andererseits.

Fünfeinhalb Jahre später startete eine Sendung, die später oft Streit auslösen und, wenn es sein musste, Diskussionen in der eigenen Redaktion transparent machen sollte: das im ersten Programm der ARD zu sehende Politikmagazin „Panorama“, das der NDR seit jeher verantwortet. 2015 zeichnete sich die Sendung durch umfängliche Recherchen zum Thema Flucht und Migration aus – ein Grund dafür, dass das Medium Magazin gerade Anja Reschke, Innenpolitik-Chefin des NDR und Moderatorin von „Panorama“, zur „Journalistin des Jahres“ kürte. Unvorstellbar wäre allerdings, dass die streitbare Reschke einen Beitrag anmoderierte mit den Worten: „Nun wollen wir uns noch ein wenig mit der Bundesregierung anlegen.“ Dies tat 1963 Gert von Paczensky, der erste Redaktionsleiter des Magazins.

Welches Selbstverständnis man im NDR in den 1960er-Jahren hatte, zeigt eine Diskussion, die im August 1969 im Dritten Programm des NDR unter dem Titel „Streit um Panorama“ lief. Sie drehte sich um einen Magazin-Beitrag, der der CDU vorgeworfen hatte, sie versuche am rechten Rand Stimmen zu gewinnen. In der Sendung zum Film – direkt nach der „Tagesschau“ zu sehen – saßen drei Vertreter von CDU/CSU und drei Journalisten.

Eine derartige Debatte übers eigene Programm und dann auch noch in der Prime Time – heute undenkbar. Dabei würde man mit solchen Sendungen dazu beitragen, die gängigen Transparenz-Forderungen zu erfüllen, mit denen sich der NDR und die anderen öffentlich-rechtlichen Sender heute konfrontiert sehen. Wenn sich der gegenwärtige NDR-Intendant Lutz Marmor transparent gibt, hilft nur Fremdschämen. Wie im Oktober im „ARD-Check“, einer Unterhaltungsshow-ähnlichen Sendung, die er gemeinsam mit seinem WDR-Kollege Tom Buhrow (WDR) bestritt. Die Zuschauerfragen waren harmlos, und dennoch geriet Marmor oft ins Stottern.

Ein anderes Beispiel für die Streitlust der Redakteure war die „Panorama‘“-Ausgabe vom 11. März 1974: Zu Sendebeginn um 20.15 Uhr war auf dem Bildschirm nur Jo Brauner zu sehen – der damalige Sprecher der „Tagesschau“ verlas eine Erklärung der Redaktion des Politikmagazins. Hintergrund war die Entscheidung der ARD-Intendanten, kurzfristig einen Film Alice Schwarzers zum Thema Abtreibung zu kippen. Die Hierarchen hatten sich von einem Artikel in der Bild-Zeitung aufscheuchen lassen. Und so las Brauner vor: „Peter Merseburger und die Autoren der Sendung betrachten die solchermaßen veränderte Panorama-Sendung nicht mehr als eine, die sie präsentieren und moderieren wollen. Die Moderationstexte werden deshalb verlesen.“ Merseburger war damals Redaktionsleiter.

„Panorama“ war nur eine der Sendungen, die den NDR in der ersten Hälfte der 60er-Jahre „für ein paar Jahre zum innovativsten Sender der Republik machten“. So formuliert es der Filmemacher Helmut Herbst in seinem 2012 erschienenen Katalogbuch „Früher als wir noch nicht postmodern waren“. Sogar „ein neues Verständnis von bewegten Bildern als Teil der bildenden Kunst“ habe sich seinerzeit etabliert. Herbst hatte unter anderem Animationsfilme für die Satiresendung „Hallo Nachbarn“ produziert, die Ende Dezember 1965 ein jähes Ende fand, als der NDR die Ausstrahlung der letzten Folge verbot.

Für den kreativen Aufbruch jener Jahre steht nicht zuletzt der Name Egon Monk, ab 1961 Leiter des NDR-Fernsehspiels, vorher unter anderem Assistent Bertolt Brechts am Berliner Ensemble. Monk ließ radikal gesellschaftskritische Romane Christian Geißlers verfilmen, etwa „Die Anfrage“. 1968 wechselte Monk auf den Intendantenposten im Hamburger Schauspielhaus. Pioniere wie er drohen aber in Vergessenheit zu geraten, weil der NDR ihre Filme in seinem Programm nicht mehr zeigt. Online kann er sie aufgrund der gesetzgeberischen Beschränkungen, denen die Öffentlich-Rechtlichen unterliegen, nicht zur Verfügung stellen.

Will man die politisch folgenreichste Sendung in der Geschichte des NDR benennen, spräche viel dafür, sich für die Reihe „Der Betriebsrat“ zu entscheiden. Sie spielte eine Rolle in der größten Krise in der Geschichte des Senders. Zuerst lag sie intern mehrere Jahre auf Eis, weil Sendermanager und Gremienmitglieder sie für zu arbeitnehmerfreundlich hielten. Nachdem 1977 dann endlich die ersten Folgen gelaufen waren, forderte der aus norddeutschen Ministern zusammengesetzte Verwaltungsrat des NDR, „Der Betriebsrat“ abzusetzen – ohne die ausgestrahlten Filme überhaupt gesehen zu haben. Weil sich die Senderspitze aber weigerte, den Befehl der Parteienvertreter umzusetzen, kündigte Gerhard Stoltenberg, der damalige christdemokratische Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, 1978 den Staatsvertrag. Stoltenberg war zwar auch verärgert über allzu polizeikritische NDR-Berichte über die Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk Brokdorf, „schlimmer noch“ sei aber die Befehlsverweigerung in Sachen „Betriebsrat“ gewesen, sagt der damalige Justiziar und spätere Intendant Jobst Plog in dem Film „Unsere Geschichte – unser NDR“.

Mit Stoltenberg verbündete sich sein niedersächsischer CDU-Ministerpräsidentenkollege Ernst Albrecht, der proklamierte: „Wir werden über den NDR das ganze Rundfunkwesen in Deutschland verändern.“ Als das Bundesverwaltungsgericht die „Anschlusskündigung“ Niedersachsens für unwirksam erklärte, war diese Revolution von oben gestoppt.

Plumpe Einflussversuche von Politikern waren bis in die 1980er-Jahre üblich. Mit einem Revival sah sich der NDR noch einmal konfrontiert, als Christian Wulff zwischen 2003 und 2010 als niedersächsischer Ministerpräsident amtierte. In einem im Dezember erschienenen Interview mit dem Branchendienst „Medienkorrespondenz“ sagte Jobst Plog, Wulff hätte Vorstellungen gehabt, „über die man längst hinaus war“. Das sei auch bei anderen CDU-Leuten „nicht mehr konsensfähig“ gewesen. Wulff „mischte sich in alles selbst ein“ und habe „unverhohlen verlangt, dass man Personalien mit ihm abspricht“, erzählte Plog.

Jemand, der die inhaltlichen Veränderungen der jüngeren Vergangenheit auf den Punkt bringen kann, ist Jürgen Bertram. Er kam 1972 zum NDR, arbeitete unter anderem für „Pa­norama“. 13 Jahre lang war er ARD-Korrespondent in Südostasien, und als er 1995 in nach Hamburg zurückkehrte, war er erschüttert über den Zustand des Programms, mit dem er sich lange identifiziert hatte. Die Einführung des Privatfernsehens rund zehn Jahre zuvor hatte Spuren hinterlassen. 2000, mit 60 Jahren, ging Bertram in den Ruhestand, fünf Jahre später veröffentlichte er das Abrechnungsbuch „Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur“.

Der NDR in den 60ern

Für den kreativen Aufbruch jener Jahre steht nicht zuletzt der Name Egon Monk, ab 1961 Leiter des NDR-Fernsehspiels, vorher unter anderem Assistent Bertolt Brechts am Berliner Ensemble

Es habe, sagt Bertram heute, „ein Paradigmenwechsel auf drei Ebenen“ stattgefunden: „von der Analyse zur Affirmation, von der Ernsthaftigkeit zum Entertainment und vom Tiefgang zur Trivialität“. Der 75-Jährige ärgert sich über die Regionaltümelei im Dritten Programm, die viele seiner Altersgenossen so schätzen. Ein Beispiel ist die Primetime-Doku-Soap „Der XXL-Ostfriese“: Über Weihnachten wurde dort gezeigt, wie auf dem Anwesen des Titelhelden für eine „Hofsau“ namens „Schnitzel“, eine „eigenwillige Schweinedame“, wie der NDR weiß, „eine neue Behausung ganz für sie allein aufgestellt“ wurde.

Der NDR hält Kritikern einer Verflachung gern entgegen, es habe in seinem Programm pro Tag noch nie so viele Nachrichtensendungen gegeben wie heute. Und Programmdirektor Frank Beckmann ist stolz darauf, dass das NDR Fernsehen werktags als einziges Drittes Programm der ARD um 20.15 Uhr Informationsformate sendet.

Dazu beitragen, das Image des Senders aufzubessern, könnte der Rundfunkrat des NDR, der, zumindest auf dem Papier, das Programm kontrolliert. Dort sitzen Gesandte von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und anderen Organisationen, sie vertreten, zumindest auf dem Papier, die norddeutschen Rundfunkbeitragszahler.

Bisher sind diese von Diskussionen, die in ihrem Namen geführt werden, ausgeschlossen. Als die Räte Anfang Dezember unter anderen über die Sache mit Xavier Naidoo sprachen, erfuhr die Öffentlichkeit nur, die Gremienmitglieder hätten „deutliche Kritik“ an der ursprünglichen Entscheidung des NDR geübt. Die Details blieben im Dunkeln – anders als bei den Rundfunkräten der meisten anderen ARD-Anstalten, die inzwischen öffentlich tagen.

2016 könnte das Jahr sein, in dem der NDR-Rundfunkrat diesem Beispiel folgt. Ringt er sich dazu durch, wäre wenigstens ein bisschen was gewonnen.