Streit um Obdachlosenheime in Hamburg: Aufstand der Ängstlichen
Zwei Unterkünfte für Obdachlose polarisieren Hamburg-Niendorf. Die einen fürchten um ihren Vorgarten, andere ärgert die unsolidarische Nachbarschaft.
Bereits vor der Veranstaltung hatte es viel Kritik an der Informationspolitik der Behörde gegeben. Viele Niendorfer*innen beschweren sich auch an diesem Abend, sie seien nicht rechtzeitig informiert worden. Petra Lotzkat, Staatsrätin der Hamburger Sozialbehörde, entschuldigt sich auf der Veranstaltung gleich mehrmals dafür. Nun sei ein runder Tisch geplant, um die Anwohner*innen einzubinden.
Das ändert aber nichts daran, dass viele Anwohner*innen das Vorhaben der Behörde nicht richtig finden: „Die Unterkünfte sind am falschen Standort“, sagt ein Mann auf der Veranstaltung und erntet Applaus. Und ein anderer fragt: „Wie viel kann ein Stadtteil ertragen?“ Im Vorfeld hat ein neuer Zusammenschluss von Niendorfer*innen Flyer verteilt, um das Projekt vorerst zu stoppen.
Geplant sind zwei Einrichtungen: In das ehemalige Pflegeheim am Garstedter Weg 79–85 soll eine Pflegeeinrichtung für obdachlose Menschen kommen, die besonders vulnerabel sind. Angemietet wird das Gebäude von Fördern & Wohnen. Der städtische Träger habe jahrelang nach einer geeigneten Immobilie gesucht, sagt Bereichsleiterin Ina Ratzlaff. Bis zu 118 Frauen und Männer können nun in Niendorf untergebracht werden. Die ersten Menschen sollen am 22. April kommen, bis Ende Mai sollen es 51 Bewohner*innen sein. Nach und nach werde die Unterkunft voll belegt.
Gegenüber befinden sich eine Kita und eine Schule
Etwa 400 Meter weiter, in der Fett’schen Villa am Garstedter Weg 20, soll zusätzlich ein sogenanntes Übergangswohnen für obdachlose Menschen entstehen. Der Pflegebedarf steht hier nicht im Vordergrund, maximal 18 obdachlose Frauen und Männer sollen hier vorübergehend unterkommen.
Viele Eltern äußern wegen der Standorte Sicherheitsbedenken: Gegenüber der Pflegeeinrichtung befinden sich eine Kita und eine Grundschule. Und eine ältere Frau bezweifelt am Dienstag laut, dass sie noch weiter mit dem Fahrrad zum Sportverein in der Nähe der Unterkünfte fahren könne: „Ich überlege mir schon, ob ich da weiter hingehe, wenn ich dafür an beiden Brennpunkten vorbei muss“, sagt sie.
„Wir wollen Ihre Ängste ernst nehmen“, sagt Ratzlaff auf der Veranstaltung. Die Sozialbehörde habe deshalb ein Konzept entwickelt, um vor allem in der Anfangszeit darauf einzugehen. Im Radius von 500 Metern um die Pflegeunterkunft herum soll Security Streife gehen. Ab 7 Uhr morgens sollen außerdem zwei Sicherheitskräfte vor der Einrichtung stehen.
Es sei außerdem jederzeit möglich, das Sicherheitskonzept auszubauen. Auf ihrer Website schreibt die Sozialbehörde dazu: „Dieses Sicherheitskonzept setzen wir auf, um den Sorgen der Anwohnerinnen und Anwohner begegnen zu können, nicht weil wir meinen, es sei dringend erforderlich.“ Auf der Veranstaltung bezweifelt das ein Niendorfer: Er sei irritiert, dass die Behörde predigt, die Obdachlosen seien nicht gefährlich, aber trotzdem Sicherheitskräfte stellt.
Reicht das Pflegepersonal?
Das Misstrauen unter den Anwesenden ist trotzdem groß am Dienstagabend. Einige äußern ihre Sorge, dass die Klientel vom Hauptbahnhof in ihren Stadtteil verlagert wird. „Bitte sagen Sie uns ehrlich, worauf wir uns hier einstellen müssen“, sagt ein Anwohner. Und ein anderer ergänzt: „Ich finde es unglaublich, unter den Tisch zu kehren, dass jeder zweite Obdachlose suchtkrank ist.“ Eine andere Frau erzählt davon, wie schon einmal ein Obdachloser in ihrem Vorgarten lag. Wie so etwas vermieden werden könne, will sie wissen.
Staatsrätin Lotzkat versichert: „Wir haben kein Interesse daran, dass Niendorf ein Brennpunkt wird.“ Zu dem Konzept der Pflegeeinrichtung und der Übergangswohnungen gehöre, dass keine drogenabhängigen Menschen aufgenommen werden. Mehrmals wiederholt die Staatsrätin, dass die obdachlosen Menschen, die nach Niendorf kommen, „regelkonform“ sein müssen.
Ina Ratzlaff stellt sogar klar, dass die zukünftigen Bewohner*innen „handverlesen“ seien. Es handele sich dabei um Menschen, die ganz klar den Wunsch äußern, etwas an ihrem Leben verändern zu wollen. Und sie betont, dass die Pflegeeinrichtung 24 Stunden am Tag erreichbar sei: „Melden Sie sich bitte bei uns, wenn etwas ist“, sagt sie.
Nicht nur um ihre Sicherheit machen sich viele Niendorfer*innen Sorgen. Mehrere Anwohner*innen äußern auf der Veranstaltung Bedenken, ob überhaupt genügend Pflegepersonal vor Ort sein wird. Geplant ist, dass täglich zwei Pflegekräfte im Garstedter Weg 79–85 vor Ort sein werden. Zweimal wöchentlich solle es außerdem eine hausärztliche Sprechstunde geben. „Wie sollen zwei Pflegekräfte 118 Menschen versorgen?“, fragt jemand.
Ratzlaff stellt klar, dass für alle Bewohner*innen mit Krankenversicherung zusätzlich ambulante Pflegedienste organisiert werden können. Bereits mehrere Arztpraxen in Niendorf hätten sich außerdem bereits bei Fördern & Wohnen bereit erklärt, Patient*innen aus der Pflegeeinrichtung zu behandeln. Das Pflegeangebot gelte aber eben auch für Menschen, die keinen Leistungsanspruch auf Pflege haben, etwa Menschen aus dem EU-Ausland ohne Sozialversicherung. „Viele dieser Menschen würden auf der Straße sterben“, sagt Ratzlaff. „Sie haben entweder gar nichts oder das, was wir ihnen bieten können. Und wir nehmen die Verantwortung sehr ernst.“
Lange nicht alle Niendorfer*innen sind gegen die beiden Obdachlosenunterkünfte. Eine Frau meldet sich auf der Veranstaltung zu Wort: „Ich finde es richtig und wichtig, dass die Unterkünfte kommen. Und meine Kinder sollen sehen, was unsere Gesellschaft ausmacht.“ Eine Besucherin sagt, sie sei bedrückt davon, wie viele Leute sich gegen die Unterkunft stark machen. Und eine andere Frau geht noch weiter: „Ich habe mehr Angst vor einigen Leuten, die hier sitzen, als vor den obdachlosen Menschen, die herkommen sollen.“
Auch einige Oberstufenschüler*innen aus Niendorf sitzen am Dienstagabend in der Kirche. Am Rande der Veranstaltung sagt eine von ihnen der taz: „Ich bin auf jeden Fall dafür, dass die Unterkunft kommt. Viele Menschen verhalten sich gerade absolut unsolidarisch.“
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