Streit um Hamburger Gefahrengebiete: Polizei vielleicht verfassungswidrig
Seit ein Gericht Gefahrengebiete als verfassungswidrig einstufte, arbeiten Hamburger Behörden an neuem Gesetz. Solange kontrolliert die Polizei fleißig weiter.
Eine der kontrollierten Personen berichtet: Auf den Hinweis, Gefahrengebiete seien aber verfassungswidrig, hätten die PolizistInnnen erwidert, das Urteil sei ihnen zwar bekannt, sie fühlten sich aber nicht daran gebunden – ihr Auftraggeber sei schließlich nicht das Gericht, sondern die Polizeiführung.
Der Polizeipressesprecher Jörg Schröder sagte dazu: „Die Polizei agiert nach der derzeit gültigen Rechtslage.“ Und die sei nun mal, solange die geplante Änderung noch nicht in Kraft sei, wie gehabt – das Gefahrengebiet.
Im April hatte sich die rot-grüne Koalition auf eine Gesetzesänderung geeinigt, die Gefahrengebiete abschafft und in „gefährliche Orte“ ändert. Kontrollen sollen nach dem neuen Gesetz nicht mehr flächendeckend möglich sein, dafür reichen die Befugnisse der BeamtInnen weiter. Die Neuregelung sei „schärfer, aber zielgerichteter“, argumentierten Justizsenator Till Steffen (Grüne) und Innensenator Andy Grote (SPD). Nach der Sommerpause soll das neue Gesetz im Innenausschuss und der Bürgerschaft verabschiedet werden.
Die Neuregelung des Gesetzes über Gefahrengebiete, die zukünftig „gefährliche Orte“ heißen, sieht vor:
Zukünftig können nicht mehr ganze Viertel unter Generalverdacht gestellt werden. Es muss belegbar sein, dass genau an dem fraglichen Ort Kriminalität stattgefunden hat – und nicht drei Straßen weiter. Kriminalität heißt hier: Straftaten von erheblicher Bedeutung.
Dann dürfen nicht nur Identitäten festgestellt, sondern auch Taschen durchsucht werden – aber nur, wenn auf die Person bezogene tatsächliche Anhaltspunkte dies erforderlich machen.
Aber wie kann bis dahin noch ein Gesetz noch in Kraft sein, das nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist? Ganz so einfach sei das nicht, sagt der Hamburger Verfassungsrechtler Ulrich Karpen. „Über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kann nur ein Verfassungsgericht entscheiden.“ Das Oberverwaltungsgericht habe in einem konkreten Fall geurteilt.
Im Mai 2015 hatte eine Passantin geklagt, weil sie im Gefahrengebiet kontrolliert worden war. Sie bekam Recht und das OVG begründete auf 36 Seiten, warum es Gefahrengebiete generell für verfassungswidrig hält. „Hinfällig wird das Gesetz über die Gefahrengebiete dadurch aber nicht“, stellt Karpen klar. Allerdings halte er es aus Sicht der Polizeiführung nicht für klug, ein Gesetz weiter zu praktizieren, wenn es ernsthafte Hinweise darauf gibt, dass es gegen die Verfassung verstößt. Polizei und Innenbehörde finden das unproblematisch. Frank Reschreiter von der Innenbehörde sagt: „Solange der Gesetzestext nicht geändert wird, gilt das alte Gesetz unter Berücksichtigung des OVG-Urteils.“
Nur: Wie sollen die BeamtInnen das umsetzen? Kontrollen aufgrund des Gefahrengebiets durchzuführen, unter Berücksichtigung des Urteils, das Gefahrengebiete als verfassungswidrig einstuft? In der Urteilsbegründung des Gerichts steht: „Schon die Ausweisung eines Gefahrengebiets kann sich auf die unbehelligte Grundrechtsausübung auswirken“.
Die Anwältin Alexandra Wichmann, die mehrere AnwohnerInnen des Gefahrengebiets St. Pauli in Rechtsfragen berät, ist der Meinung: „Wenn man das OVG-Urteil ernst nimmt, kann es keine Gefahrengebiete geben. Alle Maßnahmen, die unter Berufung auf das Gefahrengebiets erfolgen, verstoßen gegen Grundrechte“. Die Polizei setze sich wissentlich über das Urteil hinweg. Polizeisprecher Schröder weist diesen Vorwurf zurück. Wie die BeamtInnen bei den Kontrollen das OVG-Urteil berücksichtigen, erklärt er so: „Die Inaugenscheinnahme von Rucksäcken ist seit dem Urteil nicht mehr erlaubt.“
Was allerdings nicht heißt, dass sie nicht vorkommt. Vergangene Woche berichtete eine Anwohnerin der Hafenstraße: Kurz nachdem sie ihr Haus verlassen habe, sei sie von PolizistInnen angehalten und ihre Personalien seien überprüft worden. Dabei habe eine Beamtin sie am ganzen Körper abgetastet und ihre Tasche durchsucht. Auf die Frage nach dem Grund für die Durchsuchung hätten die BeamtInnen ihr die Auskunft verweigert. Die Anwohnerin will Rechtsmittel einlegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen