Lieber deutscher Soldat in Afghanistan
Du wirst dich fragen, warum ich dir schreibe. Die Antwort ist gar nicht so einfach für mich. Etwas treibt mich um, eine Mischung aus alten Erinnerungen, Scham und Zorn. Vielleicht merkst du schon: ich bin alt. Du bist jung. Ob du alt wirst – hoffentlich!
Ich gehöre zu der Generation, deren Eltern den zweiten Weltkrieg aktiv miterlebten. Mein Vater war Soldat in Russland. Begeistert, mit dem Gefühl, Deutschland und die Heimat zu verteidigen, griff er gierig nach der Waffe und stürzte sich auf den Feind. Er war überzeugt von der Rechtmäßigkeit des Krieges, überzeugt vom Führer und von seinen Vorgesetzten. Bis an sein Lebensende (er überstand den Krieg mit einer Pistolenkugel im Nacken, die ihm auf einer Seite einige Zähne wegrasierte) war er von der Richtigkeit des Krieges überzeugt. Als ich Kind war, hörte ich von Männern wie ihm Heldengeschichten. Keiner sprach vom Leiden oder vom Sterben.
Wie kam es eigentlich zu dem Krieg, in dem du dich befindest? Denn ein Krieg – du weißt das – ist es. Da war das abscheuliche Attentat auf das World Trade Center. Präsident Busch, Mitglied einer skrupellosen Clique von Geschäftsleuten und Politikern, sprach damals sofort von einem Angriff auf Amerika und mobilisierte das Militär. Weil es im Rahmen der Nato so festgelegt ist, hatten die anderen Mitglieder Amerika zur Seite zu stehen. Was dann folgte ist allgemein bekannt. Diese Clique zettelte einen lügnerischen und völkerrechtswidrigen Krieg an und schickte zudem Truppen nach Afghanistan. Dort sollten dann die Terroristen bekämpft werden, die man für das Attentat verantwortlich machte.
Lieber Soldat, ich glaube, du weißt inzwischen auch, dass man militärisch einen solchen Gegner nicht bekämpfen kann. Das siehst und spürst du jeden Tag. Gegenwärtig verlangt der amerikanische Truppenführer in Afghanistan mehr Truppen für diesen Kampf. Mal abgesehen davon, dass die Afghanen bisher jeden Aggressor, inklusive der damaligen Supermacht UDSSR, aus dem Land gejagt haben, erinnert der Verlauf des Krieges sehr an den Vietnamkrieg, dessen Ausgang bekannt ist. Obwohl die Amerikaner damals ein Mehrfaches der Sprengkraft des gesamten zweiten Weltkrieges auf dieses vergleichsweise kleine Land abluden, verloren sie diesen Krieg. Auch damals wurden immer mehr Truppen und immer mehr Kriegsmaterial in dieses Land geschickt. Der Oberkommandeur kündigte damals an, man werde das Land in die Steinzeit zurück bomben.
Du siehst auch, dass unschuldige Menschen mit dem Leben für die fixe Idee eines Sieges sterben, die so genannten Kollateralschäden. Wer sind eigentlich deine Feinde dort? Taliban, wer ist das und wo sind sie? Fragen, die du dir täglich stellst, sobald ein Afghane dir gegenübersteht. Religiöse Fanatiker, sagt man. Es wird schon stimmen – zum Teil sind es religiöse Fanatiker. Aber ich glaube fest, dass die meisten so genannten Taliban einfache Leute sind, die die Waffe in die Hand nehmen, weil sie keine andere Wahl haben. Sie stehen vor der Entscheidung entweder zu verhungern, oder das bisschen Geld der Taliban anzunehmen, mit dem sie ihre Familien vor dem Hungertod so gerade retten können. Sie tun das ohne religiöse Fanatiker zu sein. Sie würden ihre Waffe sofort wegwerfen oder umdrehen, wenn du ihnen mehr Geld gäbest. Auch den Hunger und die Obdachlosigkeit, die pure Armut der Menschen, siehst du täglich. Was wird dagegen getan?
Man sagt dir, du müsstest so lange bleiben, bis das Land in der Lage sei, sich selber zu verteidigen, mit Militär und Polizei. Sicher interessierst du dich für die Politik in diesem Land. Dann müsstest du auch verstehen, dass man unsere Vorstellung von Demokratie nicht dort umsetzen kann. Die jetzige Regierung, ob gewählt oder nicht, ist korrupt bis in die Haarspitzen – mit Duldung der Amerikaner und ihrer Verbündeten. Diese Scheinregierung soll in der Lage sein, das Land nach unseren westlichen Vorstellungen zu formen.
Ich hoffe, du interessierst dich für Geschichte. Dann weißt du, wie lange es dauerte, wie viele Opfer es kostete, bis im damaligen Europa der Feudalismus beseitigt war. Von diesem Land, mit seiner feudalistischen Struktur, verlangt man diese Umstellung sofort. Es ist lächerlich anzunehmen, dass die afghanische Regierung unabhängig von den Provinzfürsten agieren kann. Allein deshalb ist das Programm Demokratie in diesem Land zum Scheitern verurteilt. Wer sollte sie schützen? Das Militär? Die Armee des Landes wird informelle Strukturen aufweisen, die das Stammesbild des Landes widerspiegeln und deshalb unzuverlässig sein. Die Polizei? Du siehst jeden Tag, wie die Polizisten Geld einstecken. Sie verdienen nicht genug, um ihre Familien durch zu bringen. Auch sie sind in die Stammesstrukturen des Landes eingebunden und gehorchen im Zweifel ihrem Provinzfürsten, die an echter Demokratie kein Interesse haben, auch wenn sie Gegenteiliges behaupten.
Und wie sieht es in deinem Land aus? Die große Mehrheit des Volkes ist gegen diesen Krieg, wünscht sich Ehemänner, Partner, Söhne oder Brüder sehnlich zurück. Sie glauben weder an die Rechtmäßigkeit dieses Krieges, noch an dessen moralischen Begründung. Sie scheinen zu wissen, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Und die politischen Führer? Struck sagte mal, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Jung vermeidet, das, was du täglich erlebst, Krieg zu nennen. Mir würde das an deiner Stelle wie eine Ohrfeige oder ein Tritt in den Hintern vorkommen.
Nie wieder Krieg! Das sagten nach dem zweiten Weltkrieg sehr viele Deutsche und gingen gegen die Wiederbewaffnung auf die Strassen. Sie wussten, warum. Sie hatten es erlebt! Doch Adenauer und seine Getreuen setzten die Remilitarisierung des damaligen Westdeutschlands durch. Weißt du, dass das damals Todesopfer kostete?
Und heute? Irgendwie erinnern mich die gebetsmühlenartig wiederholten Worte der Politiker an die Kaiserzeit. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, sagte der Kaiser damals und schickte seine Truppen los. Heute wird Deutschland am Hindukusch verteidigt. Heute exportieren unsere Soldaten Demokratie!?
Lieber Soldat, sicher gibt es in eurer Einheit auch einen Priester. Ich weiß nicht, ob du religiös bist. Aber vielleicht siehst du ihn mal. Frage ihn doch mal, warum der eine Gott, so Christen und Muslime, scheinbar auf beiden Seiten kämpft.
Ich wünsche dir alles Gute. Hoffentlich kommst du unversehrt zurück. Wir brauchen dich hier. Wir brauchen heute leider die, die vom Krieg erzählen können. Wie er wirklich ist, meine ich.
Ihren Kommentar hier eingeben
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!