: Streik vor 18 Jahren
■ Brandt verlor gegen die SPD und die Gewerkschaften
Berlin (taz) — „Es gibt keinen Sieger und keine Besiegten“, sagte 1974 ÖTV-Chef Heinz Kluncker, nachdem er nach drei Streiktagen mit dem damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher einen Kompromiß vereinbart hatte. 18 Jahre später läßt sich doch ein Verlierer des Händels ausmachen, die den Angestellten im öffentlichen Dienst einen elfprozentigen Lohnzuschlag brachten: Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt. Er hatte sich ganz entschieden gegen eine zweistellige Lohnerhöhung gewandt: „Zweistellige Ziffern bei den Tarifen beschleunigen die Gefahr einer entsprechenden Entwicklung bei den Preisen.“ Doch mit dieser auf Betreiben seines Finanzministers Helmut Schmidt und von Wirtschaftsminister Hans Friderichs gefaßten Meinung brachte er den Großteil des Kabinetts, den SPD-Vorstand, die Gewerkschaften und die Kommunen gegen sich auf. Am Ende mußte er den Lohnforderungen der ÖTV doch in großem Umfang nachkommen. Für viele ist nicht die Guillaume- Affäre, sondern die Tarifpleite die wahre Ursache für Brandts Sturz.
Die Bevölkerung nahm den Streik gelassen: Knapp 60 Prozent der Deutschen, so hatten Umfragen vor dem ÖTV-Streik ergeben, befürworteten den Arbeitskampf. Klaglos nahmen die meisten hin, daß der Briefkasten leer und die Mülltonnen voll blieben, viele setzten sich ins Auto oder aufs Fahrrad, weil die Haltestellen verwaist blieben. In der Innenstadt Berlins wurden 40.000 Autos mehr als gewöhnlich gezählt, in München maß das Umweltminsterium den siebenfachen Kohlenmonoxidgehalt in der Luft. Die 'Saarbrücker Zeitung‘ redigierte in Ermangelung von Strom bei Kerzenschein. In Heilbronn zeigte sich die ÖTV besonders unerbittlich: Als die Stadtverwaltung heimlich einen Reparaturtrupp der Stadtwerke zur Arbeit überredete, rief die Gewerkschaft auch in den Stadtwerken den Streik aus und drehte im Rathaus die Heizung ab. rik
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