Street Art in der Ukraine: Neues Habitat an der Wand
Ein Kunstprojekt verschönert Gebäude in Kiew mit Street Art. Obwohl namhafte Künstler mitmachen, stößt die Aktion nicht bei allen auf Zustimmung.
Aus der Nähe betrachtet, ist zu erkennen, dass das Gelb der Bauch einer Kohlmeise ist, die Kopfüber an einer Glühbirne hängt. Fast vier Stockwerke hoch ist das Bild auf einer Altbaugiebelwand in der Kiewer Oberstadt, dem ältesten Teil der ukrainischen Hauptstadt.
Der Schatten des Vogels auf dem beigen Untergrund verleiht dem Gemälde räumliche Tiefe. Die Wandmalerei stammt von Alex Maxiov. Im Mai 2016 hat der 37-Jährige hier neun Tage auf einer Hebebühne gestanden. „Da war das Wetter aber besser“, erinnert er sich.
Allerdings dauerte die Vorbereitung länger als erwartet. Erst musste der alte Putz von der Wand – sonst hätte die Farbe nicht gedeckt. Die Anwohner waren davon gar nicht begeistert, weil der Staub tagelang durch die Straße wehte.
Willkommene Abwechslung
Alex, der an der Kiewer Kunstakademie studiert hat, verdient sein Geld eigentlich mit 3-D-Malerei. Meist sind es Auftragsarbeiten, häufig Werbung. „Von irgendwas muss ich leben“, sagt er. Allerdings bemalt er dabei selten Wände, sondern meistens horizontale Flächen. „Jetzt tut mir der Rücken weh.“
Da sei die Wandmalerei eine willkommene Abwechslung gewesen. Vögel habe er schon mehrfach in seine Motive integriert. „Und wenn den Leuten etwas gefällt, wollen sie gern mehr davon.“ Der Vogel stehe als Gleichnis für Freiheit, die Glühbirne symbolisiere zugleich Erleuchtung und Energie.
Aber man könne natürlich auch anderes hineininterpretieren, sagt er. Anfangs dachten einige Anwohner, der Vogel sei tot, weil er kopfüber hänge. Dabei sei dies die natürliche Haltung, in der die Tiere fressen.
Maxiovs Kohlmeise ist bei Weitem nicht die einzige Wandmalerei in Kiew. Seit dem die Demonstranten des Maidan vor drei Jahren den damaligen Präsidenten Janukowitsch aus dem Amt drängten, hat sich auch im Stadtbild einiges verändert. Es gibt immer mehr Graffiti, an vielen Stellen ist Street Art zu sehen.
Kiew wird bunter. Vieles sucht einen Ausdruck, will irgendwie hinaus. Es sind kleine Dinge darunter, die spontan entstehen, wie bemalte Blumenkübel. Und große, wie Wandmalereien an sechzehnstöckigen Plattenbau-Hochhäusern.
Kreativer Freiraum
Letzteres ist freilich weniger spontan. Viele große Murals sind initiiert vom Projekt Art United Us. Irina Kanyschtschewa ist eine der Organisatorinnen. Sie ist in Kiew geboren, lebt aber seit fast vier Jahren in Florida ganz gut von ihrer Kunst, sagt sie.
Nach der Revolution habe sie ihre Heimatstadt wieder neu entdeckt. Außerdem sei auch die Kunstszene seither lebendiger geworden, es gebe neue Möglichkeiten. Mit befreundeten Künstlern entstand die Idee zu Art United Us. 100 Wandmalereien sollten in der Ukraine entstehen, so der ursprüngliche Plan.
„Wir wollten den Menschen etwas Schönes geben“, sagt sie. Der Alltag sei für die meisten Ukrainer hart, selbst ohne den Krieg im Osten. Vielen fehle Zeit und Energie, sich Kunst anzuschauen. Aber mit den Murals bringe man Kunst dorthin, wo die Menschen jeden Tag sind.
Mehr als 50 Wandmalereien sind es bisher geworden. Ukrainische und internationale Künstler beteiligen sich. Später will man das Projekt auch auf andere Länder erweitern. „Wir wollen zeigen, dass wir zusammen etwas Großartiges schaffen können.“
Eine inhaltliche Message wolle sie damit nicht verbinden. „Wir und die Künstler haben volle kreative Freiheit“, sagt sie. Große Vorgaben könne sie ohnehin nicht machen, schließlich arbeiten alle Beteiligten ehrenamtlich. Das Projekt hat ein paar Sponsoren, die Kosten für Material und Reisespesen bezuschussen.
Nicht subversiv
Bisher sind fast alle Wandmalereien in Kiew entstanden. Auf der Website von Art United Us sind sie alle verzeichnet. Eine Ausnahme ist das Porträt einer Lehrerin im ostukrainischen Awdijiwka, einer Kleinstadt nur wenige Kilometer von Donezk entfernt.
Der niederländische Künstler Guido van Helten hat es im Sommer 2016 an die Fassade eines Wohnblocks direkt an der Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den Truppen der von Russland unterstützten sogenannten Donezker Volksrepublik gemalt.
Etwas Subversives haftet dem Projekt nicht an. Die Organisatoren betonen sogar, das alles legal ist. Man hole immer das Einverständnis der Hauseigentümer ein. Nicht jeder mache mit, aber viele seien aufgeschlossen.
Und bei der Bürokratie sei es ganz hilfreich, dass Kiews Bürgermeister, Exboxweltmeister Vitali Klitschko, zu den Unterstützern des Projekts zählt. Künstler Alex Maxiov wundert das nicht. Langfristig seien Murals auch eine Touristenattraktion für die Stadt.
Industrielle Gleichförmigkeit
Doch für die Wandmalereien gebe es nicht nur Applaus. Man sei nun mal in der Öffentlichkeit, sagt er. Da müsse man auch mit Missfallen klarkommen. Solange sich Kritik auf die Malerei beziehe, könne das ja bereichernd sein.
Sein härtester Kritiker wohne in dem Haus, das er bemalt habe. „Er ist Komponist und sagte, er könne nicht mehr arbeiten, seit ich dieses furchtbare Bild an sein Haus gemalt habe“, erzählt er. Aber der Mann mache ganz schrecklichen Radiopop. „Vielleicht habe ich den Hörern einen Gefallen getan.“
Ganz anders als in Kiews Oberstadt sieht es am anderen Dnjepr-Ufer aus. Links breiten sich seit den Sechzigern Plattenbaugebiete aus, nachdem die erste Metrolinie dorthin gebaut wurde. Zwölf bis sechzehn Stockwerke ragen die meisten Gebäude in die Höhe. Ein bisschen anarchisch sehen sie aus, weil fast jeder Balkon mit verschiedenen Farben bemalt, verglast oder einfach zugemauert ist, um die Wohnung dahinter zu vergrößern.
Trotzdem erzeugt die industrielle Bauweise eine Gleichförmigkeit. In einem dieser Viertel nahe der Metrostation Charkivska hat die Berliner Künstlergruppe Innerfields die Stirnseite eines Plattenbaus gestaltet. 56 Meter hoch ist das Haus. 20 Meter über dem Boden beginnt das Bild. Es zeigt eine Frau, die eine andere Person umarmt, die nur als weißer Umriss zu sehen ist. Im Rücken der Person steckt ein Pfeil.
Mentalitätswechsel
Fünf Tage im September haben Holger Weißflog, Veit Tempich und Jakob Bardou auf einer altersschwachen Plattform an der Hauswand gearbeitet. „Ich musste mich erst mal an die Mentalität gewöhnen“, erklärt Holger Weißflog. „Wir waren vorher noch nie in der Ukraine.“
Der Boden der Plattform bog sich durch, Sicherungsleinen gab es nicht und die Aufhängung auf dem Dach war auch frei zugänglich. Trotz der Ängste seien sie immer noch begeistert. „Das war eine Ehre“, so Weißflog. Wenn man als Künstler die Möglichkeit habe, relevant zu arbeiten und eine Aussage zu transportieren, solle man das auch machen.
Ihre Bildidee änderten die drei Berliner noch mal. Zunächst wollten sie ein in Geschenkpapier eingewickeltes Gewehr darstellen, das von einem Anzugträger überreicht wird. In Kiew wurden Bedenken laut. Im Viertel leben viele Kriegsveteranen, die nicht täglich mit der riesigen Waffe konfrontiert werden wollten. „Wir waren in unserer Blase“, sagt Tempich. Auch das Paar, das sie dann tatsächlich gemalt haben, stieß nicht nur auf Begeisterung. „Eine Großmutter aus der Nachbarschaft hat sich aufgeregt.“ Aber das emotionale Abarbeiten sei Sinn des Projekts.
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