Straßenumzug in Kreuzberg: Ausschwärmen und Zuhausesein
Der Karneval der Kulturen verändert sich. Gemeinsames Feiern steht im Vordergrund, Folkloredarbietungen hingegen geraten an den Rand.
Auch wenn das klassische Eröffnungsritual des Karnevals der Kulturen – die Zeremonie der mehr als hundertköpfigen brasilianisch-deutschen Gruppe Afoxé Loni – der Finanznot der UmzugsteilnehmerInnen zum Opfer gefallen und durch eine Protestaktion ersetzt worden war: Der Stimmung der ZuschauerInnen tat das keinen Abbruch. Hunderttausende säumten am Pfingstsonntag erneut die Straßen zwischen Hermannplatz und Mehringdamm, um bei strahlender Sonne den Karnevalsgruppen und ihren Tänzen und Performances zuzusehen und zuzujubeln.
Man musste aber in diesem Jahr etwas genauer hinsehen und vor allem -hören, um manche Perlen des Karnevalsumzugs würdigen zu können. Große, wattstark bestückte Trucks, meist von Gruppen mit großzügigen Sponsoren oder mit finanzkräftigen Organisationen im Rücken, bestimmten den Sound der Straße oft über Hunderte von Metern. Kleineren Gruppen mit unverstärkter Livemusik gelang es oft kaum noch, sich dagegen durchzusetzen.
Show nur für die Jury
Die TänzerInnen der thailändischen Gruppe „Thai Smile“ etwa hatten deutlich Probleme, die eigene Musik zu hören und in ihrer Choreografie zu bleiben. Zu dominant waren die wummernden Bässe von Riesenwagen wie dem der Comenius-Projektgruppen, den die Namen von 18 Sponsoren zierten. Und während die Jugend auf dem Comenius-Truck das Publikum am Straßenrand zwar massenhaft mit Werbebroschüren eines ihrer Sponsoren bewarfen, blieb die Performance über ihr internationales Bildungsprojekt offenbar der Umzugsjury vorbehalten. Die normalen Zuschauer am Straßenrand sahen die Show jedenfalls nicht.
Aber auch so blieb genug Spannendes zum Zuschauen: in der eher folkloristischen Sparte etwa die „Amigos de Bolivia“ – die Freunde Boliviens. Statt mit dem hierzulande weit verbreiteten kitschig-sanften Sound der Panflöte überraschte die an die zweihundert Tänzerinnen und Tänzer umfassende Gruppe mit ausgesprochen wilden Klängen und Tänzen. Mit Politkunst ganz im Sinne des Berliner Karnevals beeindruckten die SchülerInnen und Schüler der Hector-Petersen-Oberschule und ihre „Heimatschwärmer“. Aus Fahrrädern, Handkurbeln und Folien hatten sie wunderschöne Raupen und Schmetterlinge gebaut, die elegant flatternd über der Umzugsstrecke schwebten und Fragen nach dem Ausschwärmen und dem Zuhausesein stellten.
Prämiert wurden sie dafür leider nicht. Einige der mit einem der mittlerweile sieben Umzugspreise ausgezeichneten Gruppen dagegen – etwa die ghanaischen Azonto-TänzerInnen oder die „Kidz 44“ von der Musikschule Neukölln – behielten ihre Performances offenbar wie der Comenius-Wagen der Jury vor – schade fürs Publikum. Dieses honorierte dagegen gerne die wachsende Zahl der Soundsystems, die diesmal nicht wie sonst erst am Ende, sondern über den gesamten Zug verteilt waren. Teils Hunderte ZuschauerInnen zogen mitten im Umzug den Wagen hinterher, wenn die Musik gefiel – eine neue Form von Interaktion bei dem Multikultispektakel.
Über die Grenzen hinaus
Und ein Zeichen dafür, wie das Fest sich verändert, verändert wird, indem es zur Tradition der Hauptstadt gerät und sich damit den bestehenden Traditionen anpasst. Ein zunehmend junges Publikum, sowohl aus eingeboren deutschen wie zugewanderten BerlinerInnen, wurde verstärkt von Touristen und NeuzuwanderInnen spanischer, griechische oder französischer Herkunft, die im Fest eine Feier der wachsenden Internationalität sehen: nicht nur Berlins, sondern ihrer Lebens- und Erfahrungswelt, die oft über die Grenzen Europas hinausreicht.
Es ist nichts Ungewöhnliches mehr, beim Karneval zwischen Besuchergruppen zu stehen, von denen die eine ihre internationalen Erfahrungen verschiedener Karnevalsfeiern vergleicht, während die andere das Fest als Kulisse nutzen, um einen traditionellen deutschen Junggesellenabschied zu feiern – und im besten Fall kennen beide Gruppen sich sogar.
Dass eine solche Multikulti-Melange auch Härten bietet, bleibt auf dem Karneval allerdings auch nicht geheim. Die gefühlt in die Höhe geschossene Anzahl der trotz lautstarken Musikanlagen unüberhörbaren Krankenwageneinsätze wies am Pfingstsonntag darauf hin, dass so mancher Kreislauf sich der im Übermaß genossenen Mischung aus deutschem Bier und karibischen Cocktails nicht recht gewachsen zeigt.
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