Straßenhändler in Brasilien: Razzien gegen Camelôs
Viele in Brasilien sind auf den Straßenhandel angewiesen. Häufige Razzien und Übergriffe durch Sicherheitskräfte machen es ihnen gerade schwer.
A uf der weltbekannten Promenade des Copacabana-Strandes ist an diesem Nachmittag eigentlich alles wie immer. Aus den Touristenbars dröhnt Samba-Musik, und Bettler*innen dösen am Rand, während Menschen aller Altersgruppen über den siedend heißen Asphalt joggen, walken und skaten. Nur eine Sache ist anders: Im Schatten eines Baumes bildet sich eine Menschentraube. Es sind Straßenhändler*innen, die heute nicht arbeiten: Sie protestieren. Denn in den letzten Wochen hat es zahlreiche Übergriffe durch Sicherheitskräfte gegeben. Kurzzeitig drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen.
Eine der Demonstrant*innen ist Márcia Cristina Siqueira dos Santos, eine große 38-jährige Frau mit kurzen krausen Haaren. Sie reckt ein Schild mit einer Aufschrift in die Höhe: „Die Leben von Straßenhändlern zählen.“ Wütend ist sie, dass am Tag davor schon wieder Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung und der städtischen Polizei anrückten und die Waren von Kolleg*innen beschlagnahmten. „Wir wollen doch nur in Frieden arbeiten.“
Die Straßenhändler*innen (camelôs) gehören zu Rio de Janeiro wie der Karneval, die Eckkneipen mit Plastikstühlen und die malerische Hügellandschaft. Von Bierdosen bis Bikinis kann man dort fast alles kaufen. Auf Initiative von Bürgermeister Eduardo Paes gingen die Stadtverwaltung und die städtische Polizei in den letzten Wochen rabiat gegen Verkäufer*innen vor. Großangelegte, medienwirksam inszenierte Razzien. Waren wurden abgenommen, und an einigen Tagen arteten die Operationen zu regelrechten Straßenschlachten aus. Die Spuren davon sieht man auch noch an diesem Nachmittag: Einige der Demonstrierenden haben Wunden am Kopf.
Die Stadtverwaltung argumentiert, die allermeisten Händler*innen würden ohne Genehmigungen arbeiten. Und das stimmt. „Wir würden gerne unsere Arbeit regularisieren“, schimpft Siqueira. „Aber die Stadtverwaltung setzt das nicht um.“ Rund 60.000 Straßenhändler*innen sollen derzeit auf eine Registrierung warten. Siqueira verkauft seit vielen Jahren Kleidung und Kunsthandwerk am Copacabana-Strand. Sie ist auf das Geld angewiesen, denn sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und hat nur wenige Jahre die Schulbank gedrückt. Wie so viele Straßenhändler*innen ist sie schwarz und Bewohnerin einer Favela.
Ein sozialer Aufstieg ist in Brasilien schwierig
Der jüngste Konflikt in Rio de Janeiro spiegelt ein tiefliegendes Problem wider. Viele marginalisierte Menschen haben auf dem formellen Arbeitsmarkt Brasiliens keine Chance. Ein sozialer Aufstieg ist aufgrund des schlechten öffentlichen Bildungssystems schwierig. Fensterlose Klassenzimmer mit mehr als 40 Schüler*innen und völlig unterbezahlten Lehrer*innen sind keine Seltenheit. Die Angriffe des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro auf den Bildungssektor haben die Situation noch zusätzlich verschärft.
Millionen Brasilianer*innen sind darauf angewiesen, Süßigkeiten am Straßenrand zu verkaufen oder unangemeldete Gelegenheitsjobs zu erledigen. In ganz Brasilien arbeiten 40 Prozent der Bevölkerung informell. Rio de Janeiro ist der Bundesstaat mit der höchsten Rate. Viele hoffen nun auf den neuen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Im Wahlkampf übergaben Händler*innen einen Brief mit Forderungen an den ehemaligen Gewerkschaftsführer. Und Lula versprach, sich für sie einzusetzen. Allerdings: Viel wird auf städtischer Ebene entschieden.
Beim Protest am Copacabana-Strand wuselt eine kleine Frau in knallorangenem T-Shirt umher. Es ist Maria de Lourdes, 48 Jahre, seit mehr als einem Vierteljahrhundert Straßenhändlerin. Heute ist sie die Vorsitzende einer Vereinigung von Straßenhändler*innen in Rio de Janeiro. Sie glaubt: Wenn sie und ihre Kolleg*innen keine Waren mehr verkaufen, landen sie in der Obdachlosigkeit. „Rio de Janeiro ist nur wundervoll für diejenigen, die Geld haben.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!