: Strahlen am Ostseestrand
Eine ehemals sowjetische Fabrik für Atombrennstäbe verseucht noch heute die Küste Estlands / Bevölkerung hofft auf westliche Hilfe ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff
Die Grünen Estlands warnten schon länger vor der Gefahr. Ein vergangene Woche veröffentlichter Untersuchungsbericht der US- amerikanischen Atomenergiebehörde gibt ihnen nun recht: Aus der ehemals sowjetischen Uranverarbeitungs-Anlage in Sillamäe fließt radioaktiv verseuchtes Wasser in die Ostsee.
Das Abwasser stammt aus einem Lagerbecken für radioaktive Abfälle und soll bislang nur in das Erdreich der unmittelbaren Umgebung lecken. Aber der amerikanische Bericht kommt zum Schluß, daß Sillamäe „ebenso gefährlich“ sei wie Tschernobyl. Schwedische und finnische Umweltschutzgruppen befürchten, daß die gesamte Ostsee verseucht werde.
Unbekannt ist die sowjetische Altlast nicht. Im Gefolge des schwedischen Königspaares, das Estland im vergangenen Jahr besucht hat, konnten westliche JournalistInnen erstmals auch Sillamäe besichtigen. Die immer noch verschleiernd „Chemisch-metallurgische Fabrik“ genannte Anlage wurde zu Beginn der fünfziger Jahre in Betrieb genommen. Sie diente zur Herstellung von Uranbrennstäben für die sowjetischen Atomkraftwerke. Möglicherweise war hier auch spaltbares Material für Atombomben hergestellt worden.
Nach den bislang bekanntgewordenen Daten sind in den vergangenen 30 Jahren mindestens 5,4 Millionen Tonnen strahlenden Abfalls in einen künstlich angelegten See gekippt worden. Der See, der 300.000 Quadratmeter groß ist, wird nur durch einen zehn Meter hohen Erdwall vom Ostseestrand getrennt. Bewohner und Bewohnerinnen von Sillamäe berichten, daß das schmutzig-grüne Gewässer bei längerer Trockenheit austrocknet und eine strahlende Schlammgrube hinterläßt.
Ein schwedisch-finnisch-estnisches Team hat inzwischen mit Analysen des Inhalts der Grube begonnen, Ergebnisse sind bislang noch nicht veröffentlicht. Menschen, die in der Nähe wohnen, klagen über eine auffallende Häufigkeit von Allergien und Haarausfall. Je nach Gezeiten liegt der normale Wasserspiegel des Abfallsees ein ganzes Stück höher als die Ostsee. Auch der heutige Direktor der Fabrik rechnet damit, daß jährlich etwa 3.000 bis 4.000 Kubikmeter radiaoktives Wasser durch die künstlichen Erdwälle sickern.
Die amerikanische Studie geht davon aus, daß außerdem mehr als 1.000 Hektar Land radioaktiv verstrahlt worden sind. Fester radioaktiver Müll der Uranfabrik wurde einfach hinter zehn Meter hohen Erdwällen abgeladen, die Gruben sind mit nichts weiter als Kies abgedeckt. Die Abfälle dürften etwa 1.200 Tonnen reinen Urans enthalten.
Die Fabrik selbst ist ein riesiger Komplex mit über 8.000 Arbeitsplätzen. Sie liegt in einem Außenbezirk der Stadt Sillamäe, die zu sowjetischen Zeiten ein Sperrbezirk war. Vor allem RussInnen und BewohnerInnen anderer Teile der ehemaligen Sowjetunion wurden hier angesiedelt. Es herrschte offiziell Ruhe. Heute sind die Menschen beunruhigt, befürchten im Gespräch eine akute Gefährdung des Grundwassers, und fordern die Schließung des Komplexes, auch wenn Arbeitsplätze verlorengehen. Denn zahlreiche Kinder leiden in Sillamäe an Haarausfall und seltsamen Hauterkrankungen.
Die estnische Regierung hat auf der letzten Ostsee-Umweltkonferenz in Helsinki zu erstenmal auf die Notwendigkeit einer Sanierung von Sillamäe hingewiesen: Tallinn selbst habe dazu jedoch kein Geld – und aus Moskau habe man sich eine klare Absage eingehandelt. In Estland hofft man jetzt auf westliche finanzielle Unterstützung.
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