Straffreiheit für Obdachlose in Ungarn: Ein wenig Menschlichkeit
Obdachlosigkeit ist nicht strafbar. Das ungarische Verfassungsgericht hebt ein Gesetz der rechtsnationalistischen Regierungspartei auf.
WIEN taz | Obdachlosigkeit ist nicht strafbar. Das befand Ungarns Verfassungsgerichtshof in der vergangenen Woche und hob ein Gesetz auf, das Menschen, die sich zu lange im öffentlichen Raum aufhalten, mit Geld- und Gefängnisstrafen bedroht. „Der reine Umstand, dass jemand im öffentlichen Raum lebt, beeinträchtigt nicht automatisch die Rechte anderer Menschen, verursacht nicht zwingend Schäden und gefährdet auch nicht per se die gewöhnliche Nutzbarkeit von öffentlichem Raum.“
So begründet das Gericht seinen Spruch, der die Law-and-Order-Politik der rechtsnationalistischen Fidesz konterkariert. Vorgeprescht war vor einem Jahr Máté Kocsis, Bezirksvorsteher des 8. Budapester Bezirks, der Obdachlose in den Parks als Ärgernis sah. Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, das seit dem 15. April 2012 die „Nutzung öffentlichen Raums für Wohnzwecke“ unter Strafe stellt. Wer die umgerechnet 500 Euro nicht zahlen kann, muss eine Ersatzhaft von bis zu 75 Tagen antreten.
Gleichzeitig wurde zwar die Bettenanzahl in kommunalen Herbergen erhöht, doch allein in Budapest überstieg die Anzahl der Obdachlosen die Zahl der Betten um etwa 3.000. Laut Schätzungen des Malteserordens leben in Ungarn 30.000 Menschen auf der Straße, davon 8.000 in der Hauptstadt.
Die Entscheidung des Gerichtshofs „ist ein Sieg der Rechtsstaatlichkeit, der Obdachlosen und all jener, die sich gegen die Verfolgung von Unterstandslosen eingesetzt haben“, jubelte die Organisation „A Város Mindenkié“ (Die Stadt gehört allen) in einem Kommuniqué. Auch die Vereinten Nationen und die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatten das Vorgehen von Regierung und Gesetzgeber kritisiert.
Budapests Bürgermeister ist uneinsichtig
Budapests Bürgermeister István Tarlós fand für den Spruch des Verfassungsgerichts kritische Worte und ließ wissen, dass er auch künftig dafür sorgen werde, dass Touristen nicht durch den Anblick Obdachloser belästigt würden. Vergangenes Frühjahr hatte er behauptet, dass dank der neuen Maßnahmen kein einziges Kälteopfer zu beklagen sei.
Bálint Misetics von A Város Mindenkié bestreitet das unter Berufung auf Informationen aus den Krankenhäusern, wonach vergangenen Winter etwa 60 Menschen erfroren seien. Misetics wirft der Regierungspartei Fidesz auch Heuchelei vor, wenn sie bedauert, dass die Aufhebung des Gesetzes die Obdachlosen verwundbarer machen würde. Das Sozialministerium sei in Verzug mit der Auszahlung der Mittel für NGOs, die Obdachlose betreuen. Misetics: „Sie tun so, als ob es diesmal keinen Winter gäbe.“
Leser*innenkommentare
Frigga
Gast
Wieso wird die DDR hier bemüht in einem vorangegangenen Kommentar?
WEnn die EU/Ungarn unrechtmäßig handelt (wovon ich ausgehe, wenn auch nur in Erwägung gezogen wird, Obdachlose zusätzlich zu bestrafen anstatt ggf. ein Bußgeld an die Länder/Regionen zu verhängen, in denen Menschen wieder Willen obdachlos sind(!)), macht das die Unrechtmäßigkeiten der DDR nicht besser. Das gute an der DDR: sie ist Geschichte. Das Traurige: auch das Gute daran wurde erstmal pauschal verdammt und wird nur langsam vom Kapitalismus zurückentdeckt. Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dumm und gefährlich: Werden Obdachlose oder als dies deklarierte verhaftet, erinnert mich das eher an die Zeit vor der DDR...
Hans
Gast
@D.J.
Der von Ihnen angeführte Satz aus der ungarischen Presse macht das Ganze nicht besser.
"Vorhandensein ausreichender Notunterkünfte" ist eine täuschende Erklärung. Wo sind die Notunterkünfte, sieht es vielleicht auf der Straße schöner aus, als in den Unterkünften, warum sollte man sich nicht im öffentlichen Raum über längere Zeit aufhalten dürfen?
Es stimmt, dass die Westeuropäische Presse eine relativ einseitige Berichterstattung über Ungarn, Russland und Weißrussland bringt, doch wir haben einfach ein anderes Verständnis von der Demokratie als diese Länder. Und wir in Deutschland haben gelernt, was so eine rechten Diktatur anrichten kann...
Wolfgang
Gast
Zu: @ "Habeas Corpus"
Bezug: "plädieren" für 'Menschlichkeit' im Kapitalismus?
Auch die von Ihnen genannten bürgerlichen Parteienstiftungen, wie auch alle Konzern- und privaten Stiftungen etc., gehören zum bestehenden kapitalistischen System. Ebenso, auch die herrschende Justiz der Wirtschafts- und Monopolverbände - und deren parlamentarische klein-bürgerliche Parteien und deren'rechtsstaatliches' Gesetzgebungsverfahren ...
Mit "plädieren" oder 'wünschen' lasst sich kein staatsmonopolistischer Kapitalismus der Finanz- und Monopolbourgeoisie - wie in EU-Europa und der Germania AG - überwinden.
Habeas Corpus
Gast
Und da versuchte eine bestimmte Gruppe die DDR als Unrechtsstaat hin zu stellen während in der EU Menschenrechte mit den Füßen getreten werden.
"Die Europäische Menschenrechtskonvention stuft das Recht auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung in Artikel 5 als Menschenrecht ein."
Und dennoch passiert es.
Die USA machte es vor, wiederspricht ihrer eigenen Gründung und den Gründervätern:
"Am 31. Dezember 2011 unterzeichnete Präsident Barack Obama das „Nationale Verteidigungsbevollmächtigungsgesetz für das Fiskaljahr 2012“ (NDAA) "mit ernsthaften Bedenken". Es erlaubt die Festnahme von Personen unter Terrorverdacht durch das Militär und eine Haft unbegrenzter Dauer in Militärgefängnissen ohne Gerichtsverfahren, Rechtsbeistand oder Berufungsmöglichkeit. Eine Verbringung ins Ausland oder die Übergabe an ausländische Rechtsträger ist möglich."
http://www.washingtonpost.com/politics/obama-signs-defense-bill-pledges-to-maintain-legal-rights-of-terror-suspects/2011/12/31/gIQATzbkSP_story.html
Ich plädiere dafür, dass die Konrad Adenauer, Friedrich Naumann, Hans Seidel Stiftung keine Staatsgelder erhält und der offizielle staatliche Auftrag entzogen wird.
Wolfgang Banse
Gast
Obdachlosigkeit darf nicht mit einer strafbaren Handlung gleichgesetzt werden.Obdachlosigkeit ist ein Skandal der gesellschaft,gleich wo es sie gibt.
Wolfgang
Gast
Moderner Kapital-, Sozial- und EU-Faschismus?
Menschen werden in Armut gehalten und gleichzeitig dafür noch bestraft. Eine kapital-faschistische Praxis! - analog der bundesdeutschen:
Arbeitslose, auch vormals langjährige ältere Erwerbstätige, nun im offenen Hartz-IV-Strafvollzug, mit "Eingliederungsvereinbarung" (= analog der historischen deutsch-faschistischen Praxis) in die Unterbezahlung (auch für weniger als 1/3 des Tariflohnes) und/oder in Zeitarbeit und Leiharbeit zu zwingen! Diese reale Praxis in Deutschland 2012 erfolgt auch mit Androhung und Durchführung der Streichung der lebensnotwendigen Leistung.
Natürlich, die Tatsachen werden auch weiterhin von den beauftragten "Jobcenter"-Behörden, der Bundesarbeitsagentur und der BDA-Lobby-Regierung medial erfolgreich geleugnet!
Aufwachen, deutscher EU-Medienmichel!
Karl Kraus
Gast
Och, ich finde auch, dass mich der Anblick von Obdachlosen belästigt. Auch Johannes Paul II. wurde netterweise bei seinem Brasilienbesuch ichweißnichtwann nicht belästigt. Paar Zäune hoch, paar Räumkommandos und zack. Und wenn das für den Papst gut ist, kann man überall Obdachlose wegräumen. Vielleicht könnte man dadurch Parkraum für Bonzenautos gewinnen.
D.J.
Gast
Natürlich widersprach dieses Gesetz meinen Vorstellungen von einem liberalen Staat, der seine Bürger/innen nicht zu gängeln hat.
Aber in der "Hungarian voice" wird das Gesetz ein wenig anders beschrieben:
"Die ungarische Regierung hatte dem Wohnen im öffentlichen Raum den Kampf angesagt. Obdachlose, die – trotz Vorhandensein ausreichender Notunkerkünfte – im Freien lebten, begingen eine Ordnungswidrigkeit."
Interessant. Es ist halt gut, skeptisch zu sein, wenn praktisch die gesamte deutsche Presse mal wieder ein Hyperfeindbild aufbaut (hier die sicher in vielen Punkten zu kritsierende ungarische Regierung).