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■ Besorgniserregende Suizidwelle in BrandenburgStolpetempler

Angesichts der Schweizer Massenselbstmorde von Anhängern der Sonnentempler-Sekte warnte auch Joachim Keden, der Sektenbeauftragte der Evangelischen Kirche im Rheinland, vor möglichen kollektiven Entleibungen hierzulande. Endzeitstimmung liegt in der Luft; Reporter von „Explosiv“ durchstreifen abgelegene Wälder auf der Suche nach Sonnentemplerresten.

Unbeachtet von Pfarrern, Medien und Experten bringt sich derweil eine gut getarnte, weil scheinbar nicht organisierte Gruppe um die Ecke: die Brandenburger. Ihren Freitod arrangieren sie zwar aus Prinzip unspektakulär, aber stets nach dem gleichen Muster – sie benutzen ihr Auto.

Brandenburger „kommen von der Strecke ab“ und prallen gegen Granitsteinmauern. Sie „übersehen“ rote Ampeln an Kreuzungen und rammen Laster oder lassen sich aus der Kurve in einen Graben tragen. Daß sie in diesen Fällen nur ihr eigenes Leben beenden, ist selten. Auch die Brandenburger pflegen den kollektiven Abschied vom irdischen Dasein. Der verantwortungsbewußte Brandenburger lädt daher gewöhnlich mindestens ein Mitglied seiner Gemeinschaft ein, beim Zusammenstoß mit einem Baum dabeizusein. Mitsterbegelegenheiten sind sehr gefragt. Anders als etwa bei den Schweizern findet sich natürlich niemand, der im Falle eines mißglückten Suizids mit der Pistole nachhilft. Das stellt die Brandenburger vor ein großes Problem. Wenn sie versagt haben, müssen sie auf die Reparatur ihrer Selbstmordwaffe warten. So können oft Monate vergehen, bis ein neuer Versuch unternommen werden kann. Wertvolle Hilfe leisten hier speziell ausgebildetet Sektenmitglieder. Die „Diskoraser“ spüren in ihrer Freizeit andere Brandenburger auf. Oft arbeiten sie im Team, das heißt, sie sind in zwei verschiedenen Autos unterwegs. Begegnen sie dann auf der Landstraße einem entgegenkommenden Wagen, formieren sie sich zum „Doppeldiskoraser“. Bei genügend hoher Geschwindigkeit ist die Trefferquote enorm. Das liegt vor allem daran, daß die Brandenburger sich streng an ein vorgeschriebenes Ritual halten, das ein geselliges Beisammensein und Alkoholkonsum vorschreibt, bevor die letzte volle Fahrt beginnt.

„Hysterische und wahnhafte Ideen können im Extremfall zu Kurzschlußhandlungen führen“, warnte Keden. „Gerade in der Abgeschlossenheit kann eine Gruppe eine Scheinwelt aufbauen und den Bezug zur Realität verlieren.“ Ist das eine Erklärung für das gewollte Verschwinden der Brandenburger Landbevölkerung?

Unter allen Sektenbeauftragten, die sich mit der Automobilsekte beschäftigen, herrscht noch immer Unklarheit über die Motive der Brandenburger, ihre Gegend brandenburgerfrei zu machen. Was treibt die Menschen um? Ist es die bevorstehende Fusion mit Berlin zu einem gemeinsamen Bundesland? Oder glaubt der Brandenburger vielmehr, in seinem nächsten Leben nicht nur in tiefergelegten BMWs über die Straßen flitzen zu dürfen – und das bis zum Jüngsten Verkehrsgericht –, sondern auch noch ohne besonderen Aufpreis ein Autotelefon zu erhalten? Die Beratungen der Sektenexperten dauern an. Carola Rönneburg

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