Stockholmer Sipri-Institut: Nukleare Abrüstung war einmal
Erstmals seit den 90er Jahren ist die Zahl einsatzfähiger Atomwaffen gestiegen. Das Sipri-Institut warnt vor einem neuen nuklearen Wettrüsten.
Gleichzeitig sank zwar in der globalen Nuklearwaffenstatistik die Zahl atomarer Sprengköpfe von 13.400 auf 13.080. Aber ausgemustert wurde im Wesentlichen nur, was sowieso nicht mehr einsatzfähig war, konstatiert das Friedensforschungsinstitut Sipri in seinem diesjährigen Jahrbuch, das am Montag veröffentlicht werden sollte und der taz vorab vorlag.
Die Modernisierung der nuklearen Arsenale habe das Potenzial, zu einem neuen nuklearen Wettrüsten zu führen, warnt das Stockholmer Institut. Es gebe „besorgniserregende Zeichen dafür, dass der rückläufige Trend, der die weltweiten Nukleararsenale seit dem Ende des Kalten Krieges gekennzeichnet hat, zum Stillstand gekommen ist“, sagt der Sipri-Nuklearwaffenexperte Hans M. Kristensen.
Der dänische Forscher und Direktor des Nuclear Information Project des Bundes amerikanischer Wissenschaftler (FAS) sprach von „schlechten Aussichten für eine zusätzliche bilaterale nukleare Rüstungskontrolle zwischen den nuklearen Supermächten“.
Auch wenn die in letzter Minute erfolgte Verlängerung des New-Start-Abkommens durch Russland und die USA im Februar 2021 „eine Erleichterung gewesen“ sei, „scheinen sowohl Russland als auch die USA die Bedeutung, die sie Nuklearwaffen in ihren nationalen Sicherheitsstrategien beimessen, zu erhöhen“.
Kehrtwende unter Trump
So hätten die USA in der unter Präsident Trump 2018 beschlossenen Nuclear Posture Review (NPR) das Spektrum möglicher Szenarien für den Einsatz von Atomwaffen weiter ausgedehnt – was eine Kehrtwende vom NPR der Obama-Regierung von 2010 war, welche die Bedeutung von Atomwaffen für die US-Militärdoktrin verringern wollte.
Die USA hätten auch das Budget für das nukleare Forschungs- und Entwicklungsprogramm um 25 Prozent erhöht. Von den geschätzt 72,6 Milliarden US-Dollar, die 2020 global für Nuklearwaffen aufgewendet wurden, entfallen mit 37,4 Milliarden mehr als die Hälfte auf die USA, 10 Milliarden auf China und rund 8 Milliarden auf Russland. Sipri schätzt, dass die USA und Russland die Zahl ihrer „deployed warheads“ im vorigen Jahr um jeweils rund 50 erhöht haben.
Diese beiden Staaten allein haben die Kontrolle über 90 Prozent aller globalen Nuklearwaffen – wobei aber auch die anderen sieben atomar bewaffneten Staaten (Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea) neue Waffensysteme entwickelten oder stationierten beziehungsweise entsprechende Absichten angekündigt hätten.
Neue Sicherheitspolitik in Großbritannien
Die deutlichsten Signale habe Großbritannien mit einem neuen sicherheitspolitischen Grundsatzdokument gegeben. Demnach soll das britische Atomwaffenarsenal von 180 auf 260 Atomsprengköpfe ausgebaut werden. China befinde sich in einer Phase einer bedeutenden Modernisierung und Erweiterung seines Bestands, betont Sipri.
„Und auch Indien und Pakistan scheinen ihre Nukleararsenale zu erweitern.“ Nordkorea habe 2020 zwar keine weiteren nuklearen Testexplosionen oder ballistische Langstreckenraketentests durchgeführt, setze aber die Produktion von spaltbarem Material und die Entwicklung von ballistischen Kurz- und Langstreckenraketen fort.
Das Inkrafttreten des UN-Atomwaffenverbotsvertrags im Januar 2021 unterstreiche gleichzeitig „die wachsende Kluft“ zwischen Nicht-Nuklearstaaten und den Nuklearmächten, „die alle in die langfristige Zukunft ihrer Nuklearstreitkräfte investieren, während andere Staaten ungeduldig Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung einfordern“, sagt Sipri-Forscher Matt Korda. Mit dem jetzigen ersten rechtsverbindlichen Abkommen zum Verbot der Entwicklung, Stationierung, des Besitzes, des Einsatzes und der Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen wachse der Druck auf die Nuklearmächte zu wirklichen Abrüstungsschritten.
Das 52. Sipri-Jahrbuch hebt aber auch hoffnungsvolle Entwicklungen hervor: Trotz ungelöster Konflikte, steigender Militärausgaben und des ersten Jahrs einer verheerenden Pandemie habe „sich die globale menschliche Sicherheit im Jahr 2020 nicht weiter verschlechtert“, lautet das Fazit von Sipri-Direktor Dan Smith. Die Zahl der Menschen, die in bewaffneten Konflikten ums Leben kamen, sei deutlich zurückgegangen und es habe „einige bemerkenswerte – wenn auch immer noch unzureichende – Fortschritte bei den Klimazielen gegeben“.
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