■ Die Stadt wird umgebaut: Stille Verdrängung
Da mögen Politiker noch so gescheit darüber reden, wie man die unkontrollierte Wucherung eines Speckgürtels um Berlin verhindert oder zumindest sinnvoll strukturiert – in der Realität ist die Abwanderung an den Stadtrand längst in Gang. Die innerstädtischen Bezirke können den Verlust an Arbeitsplätzen in Industrie oder Handwerk nur hilflos registrieren. Ihre Handlungsmöglichkeiten sind beschränkt. Weder haben sie den steigenden Gewerbemieten etwas entgegenzusetzen, noch haben sie überhaupt etwas von den Gewerbesteuern. Die nämlich fließen ins Stadtsäckel.
Die Vertreibung folgt den Regeln der Kostenkalkulation; welchen Wert die Mischung von Wohnen und Arbeiten für die Bezirke hat, ist dagegen kein Thema. Das Beispiel Kreuzberg zeigt, wie rasant die Entindustrialisierung voranschreitet. Wer fürchtete, die steigenden Mieten werden für eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur in Kreuzberg sorgen, wird nun belehrt, daß der Hebel viel direkter angesetzt wird: mit dem Verlust des produktiven Gewerbes werden Fachkräfte und IndustriearbeiterInnen zwangsweise den Bezirk verlassen und teilweise den Firmen nachziehen. Ihnen wird der Dienstleistungs-Mittelstand folgen. Zum zweiten Mal nach den sechziger Jahren, als die Kahlschlagsanierung weite Teile der Bevölkerung in andere Bezirke verdrängte, wird sich die Kreuzberger Mischung grundlegend verändern. Anfang der siebziger Jahre rettete die Alternativbewegung den Bezirk; diese Kraft aber ist zerronnen. Gegensteuern könnte dem Umstrukturierungsprozeß nur der Senat durch eine gezielte Gewerbeförderung im innerstädtischen Bereich. Doch bis in die Reihen der SPD gibt man sich abstinent und hält die Gewerbeflächen im Zentrum für viel zu wertvoll für die Industrie. Die Weichen für postindustrielle Dienstleistungen zu setzen ist deshalb ein ebenso politisches Programm wie Olympia 2000 in Berlin. Doch während letzteres scheitern wird, wird der schleichende Stadtumbau für Berlin zu fatalen und tiefgreifenden Konsequenzen führen. Gerd Nowakowski
Siehe Bericht Seite 22
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen